Pariser Perspektiven

Paris ist nicht nur Hauptstadt Frankreichs, sondern auch Welthauptstadt des Tourismus. 28 Millionen kommen alljährlich in die Stadt an der Seine. Da werden die Schönheiten der Stadt zum Allgemeingut, das jeder zu kennen glaubt:  Eiffelturm und Monmartre,  Louvre und  Centre Pompidou, Notre Dame und Sacre Coeur,  das Marais  und den Jardin de Luxembourg, die Tuilerien und die Bouquinisten am Seine-Ufer, die Flohmärkte und die Luxus-Boutiquen an den Champs Elyssees.  Und doch kann Paris überraschen. Es lohnt sich, die ausgetretenen Wege zu verlassen und sich auf Neues einzulassen. Wie wär’s mit einer Kanalfahrt oder mit einer Schnitzeljagd?

Die Schiffsreise beginnt im Bassin de la Villette und führt  durch das ehemalige Dorf La Villette. Wo noch bis Mitte des letzten Jahrhunderts die Pariser Schlachthöfe zum Himmel stanken, glänzt heute das Industrie- und Wissenschaftszentrum,  der Parc de la Villette, dessen Herz die futuristische Cite des Science et de l’Industrie ist.  Die Musikhalle Zenith ist hier zu finden und gegenüber das Cabaret Sauvage, ein Zirkuszelt als Heim der Pariser Subkultur. Nahe einer Brücke hat sich Cyclo-Puce eingerichtet, ein gemeinnütziger Verein, der alte Fahrräder aufmöbelt und damit benachteiligten oder behinderten Jugendlichen eine Chance auf Arbeit bietet.  Integration ist auch das Stichwort für die Stadterneuerung hier, sagt Andrea Ackermann,  eine Deutsche mit dunklen Locken, die schon so lange in Paris lebt, dass sie wie eine Pariserin aussieht. Stadt und Staat engagierten sich hier für eine neue Mischung von Wohnen und Arbeiten, erzählt Andrea, und das sommerliche Picknick im Park vereine Pariser und Menschen aus dem Umland. Vom Kanal aus sind die Wohnsilos an den Einfallstraßen – immer noch soziale Brennpunkte – nur zu ahnen.
Spurlos verschwunden ist auch die Obdachlosen-Stadt aus roten Thermo-Zelten, die im Winter 2008 für kurze Zeit am Canal Saint Martin entstanden war. Dafür schaut man vom Schiff aus in riesige Fensterfronten von trendigen Lofts , auf die Usine ephemere, eine ehemalige Fabrik, aus der Künstler eine Begegnungsstätte gemacht haben, oder auf das Hotel du Nord, Schauplatz des gleichnamigen Films aus den dreißiger Jahren, heute Kulturdenkmal und Restaurant.  Für ein paar Minuten überlässt Louie Antoine, der auf dem Schiff den Reiseleiter gibt, das Reden den beiden Hauptdarstellern Arletty und Louis Jouvet. Dabei könnte der junge Mann mit dem runden Gesicht und dem spitzbübischen Lächeln ohne weiteres mit den großen Mimen von einst konkurrieren.  Mühelos schlüpft der 30-Jährige in die Rollen von Königen und Untertanen, wechselt vom Französischen ins Englische und unterhält seine Zuhörer  zwischen den Schleusen mit kleinen Anekdoten und großer Geschichte.
Fußgängerbrücken überwölben den Kanal, die noblen Bauten aus der Gründerzeit spiegeln sich im Wasser,  vor den Schleusen warten Neugierige auf die Durchfahrt, Hausboote schaukeln am Ufer. Malerisch wirkt der Kanal, fast wie auf einem Bild von Alfred Sisley oder wie in der zauberhaften Welt der Amelie.  Doch das ändert sich, als das Schiff „abtaucht“.  Stadtplaner Baron Haussmann, dem Paris die großen Boulevards zu verdanken hat, ließ den Kanal auf einer Länge von zwei Kilometern  überbauen, „damit die Soldaten aus den Kasernen in der Stadt ungehindert zu den sozialen Brennpunkten kamen“,  erklärt Andrea flüsternd.  Louie Antoine ist verstummt, Filmmusik erklingt, Lichtprojektionen schaffen eine fast geisterhafte Atmosphäre.  Die Zeit hält den Atem an. Dann, kurz vor der Bastille, taucht das Schiff wieder auf –  in eine laute, grelle Wirklichkeit.
Dass heute noch die Ausflugsschiffe auf dem 1825 eröffneten Canal Saint Martin fahren können und Louie Antoine seine Geschichtchen erzählen kann, ist Andre Malraux zu verdanken.  Als Kultusminister unter de Gaulle setzte  sich der Schriftsteller  für den Erhalt der 4,5 Kilometer langen Wasserstraße ein, die nach den Plänen der Regierung unter einer Autobahn verschwinden sollte.  Mit dem Kanal wäre auch ein Stück Stadtgeschichte zubetoniert worden.
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Das Mittelalter ist mitten in Paris.  Im Quartier Saint Germain kann man im Musee du Moyen Age eine Zeitreise machen, man kann sich in der Sainte Chapelle in die wunderbaren Glasfenster vertiefen und in Notre Dame versuchen, die in Stein gehauenen Geschichten zu lesen, man kann auf einem virtuellen Mittelalter-Stadtplan tief in die Vergangenheit der Stadt eintauchen oder man kann ganz einfach sich selbst ins Mittelalter versetzen – in der Taverne medievale  nahe der Bastille.  Hier treffen sich jeden Donnerstag die Mittelalter-Fans zu Speis und Trank, Musik und Tanz. Am besten in zeitgenössischem Outfit. Jeans und kurze Röcke sind nicht gern gesehen, sie könnten die Illusion zerstören, für ein paar Stunden aus der Zeit gefallen zu sein.
Die nötigen Utensilien gibt’s bei Gilles, einem blonden Hünen im mittelalterlichen Rupfengewand. Der 53-Jährige, der sich schon in vielen Berufen versucht hat, hatte vor rund zwölf Jahren eine Art „Erweckungserlebnis“. Seither ist er dem Mittelalter verfallen und immer  wieder überrascht darüber, wie viele Landsleute seine Leidenschaft teilen. Inmitten von langen Roben, Rüstungen, Schildern, Helmen, keltischen Kreuzen und Weinflaschen hält Gilles Hof. Und immer mehr  nehmen seine Einladung an, lassen sich verführen zu einer Flucht aus der wenig erbaulichen Gegenwart in eine andere Zeit, eine Zeit voller Abenteuer und Überraschungen. „Vielleicht ist der Virus Mittelalter ansteckend“, vermutet der schlaue Kaufmann, „vor allem in dieser Zeit, in der einen jeden Tag eine neue Hiobsmeldung ereilt“.  Dagegen hilft nur ein Glas Hypocrase, eine Art Würzwein, dessen Rezept Gilles geheim hält.  Na denn,  Prost.
Gilles Mittelalter-Boutique ist eine Station auf der Schatzsuche, zu der „Ma Langue au ChatParis-Besucher im Quartier Saint Germain einlädt.  Das Ganze funktioniert wie eine Schnitzeljagd und  weckt kindliche Freude an Spiel und Wettbewerb. Mit einer kleinen Geschichte, angelehnt an Dan Brown Erfolgsroman „Da Vinci Code“, schickt der dunkelhaarige Daniel seine Gruppe auf Schatzsuche  kreuz und quer durch die alten Gassen.  Während die Teilnehmer all die geheimen Schriften einsammeln und den rätselhaften Hinweisen folgen, lernen sie ein Viertel von Paris auf ganz neue Art kennen.  Schnell trennt sich die Spreu vom Weizen, und aus einer Gruppe werden unterschiedlichste Grüppchen, die darum wetteifern, wer am schnellsten am Ziel ist.  Am Ende des Ausflugs haben alle gewonnen: Die einen, weil sie die Nase vorn hatten, die anderen, weil sie an den Stationen  interessante Leute kennengelernt haben und alle, weil sie auf vergnügliche Art Neues erfahren konnten.

Infos:  Zur Kanalfahrt unter www.canauxrama.com, zur Schnitzeljagd unter www.malangueauchat.com, zum Mittelalterladen unter www.echoppemedievale.com,
zu Paris unter www.parisinfo.com

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