Ihre Notizen wurden erst Jahrzehnte nach ihrem Tod entdeckt, galten dann lange als verschollen und wurden vor kurzem von Heike Steffen ins Deutsche übertragen. Jetzt kann man in einem hübsch illustrierten Büchlein also nachlesen, wie anno 1863 englische Ladies und Gentlemen die Schweizer Berge erlebten. Dank Miss Jemimas Esprit eine ebenso lohnende wie amüsante Lektüre. Und für die Schweizer nicht immer schmeichelhaft. Mal mutmaßt Miss Jemima, dass die Brotbäcker mit den Zahnärzten im Bunde stünden, weil ihr die Brotkruste zu hart ist. Dann spottet sie über ein Dinner, bei dem die Forelle ihr nasses Element gegen ein öliges eingetauscht hat oder sie macht sich über die Geschäftstüchtigkeit der Gastgeber lustig, die ihre Berge dazu nutzten, „dem glücklosen Touristen allerorten das Geld aus den Taschen zu ziehen“. Die Landschaft allerdings, die findet die junge, ziemlich emanzipierte, Lady immer wieder atemberaubend. Der Journalist und Buchautor Andreas Lesti, der den Spuren der Gruppe gefolgt ist, zieht in seinem Vorwort Vergleiche zwischen dem Berg-Tourismus damals und heute. Und er amüsiert sich über Miss Jemimas scharfzüngige aber auch hellsichtige Beschreibungen.
Ein paar Beispiele gefällig?
Über die Schweizer Landschaft:
„Wir sahen zerfurchte Berge, die sich in schimmernden Seen widerspiegelten, vom aufgehenden Mond mit Silber überzogen, während die Luft köstlich und süß über dem Tal hing.“
„(Das Rhonetal, eine der Alpenpanoramen überhaupt.) Oh! Geschätzter Leser (Frage: Warum eigentlich sollte der Leser immer ein geschätzer sein?), ließe sich die Schönheit dieser unvergleichlichen Landschaft doch nur auf deine Netzhaut glasieren, ich müsste sie nicht durch grobe Beschreibung verderben.“<
Über die Gemmi-Wanderung:
„Die ersten fünf Kilometer unserer Wanderung fühten uns über grüne Weiden bis zum Fuß der senkrechten Gemmi, und an ihrer nackten lotrechten Wand hinaufschauend, hatten wir die größte Mühe, einen Pfad auszumachen oder zu begreifen, wie wir je den Gipfel erreichen sollten… Dieser Weg zählt zu den außergewöhnlichsten Alpenpfaden überhaupt.“
„Die furchtbare Gewalt dieser Felsen ließ uns, als wir uns unter ihren überhängenden Wänden vorwärtsschoben, erzittern, da sie im Geiste unwillkürlich Gedanken an das Ende und den Untergang der Welt heraufbeschworen.“
„Dann begannen wir den Abstieg über den Maultierpfad, der am freudlosen Daubensee entlangführt, ‚treffendes Sinnbild von Unrast, Trübsinn und Kummer‘.“
Über die Menschen im Wallis:
„So üppig die Vegetation und so herrlich die Landschaft, hier sahen wir viele arme unglückliche Kretins und Krö0pfe. Diese wunderschöne Gegend scheint eine der ärmsten und melancholischsten in ganz Nordeuropa zu sein. Aberglaube, Unwissenheit, Armut und die unsauberen Gebräuche der Menschen werden zusammen mit den ungesunden Bedingungen in einem tiefen, geschlossenen Tal als Gründe für das sichtbare Elend angeführt.“
Über die Transportmittel:
„Omnibusse und chemins de fer stehen miteinander im Bunde und planen mit grausamer Freude die Beförderung des Reisenden ab Luzern. Die Schweizer verstehen ohne Zweifel etwas von und legen Wert auf bequemes Bahnreisen… Die Bahndirektoren sparen weder am Platz, noch wollen sie den Fremden allzu schnell durch ihr schönes Land spedieren, sondern ihn vielmehr mit gemessener Würde von Station zu Station befördern.“
Info: Jemima Morell, Miss Jemimas Journal – Eine Reise durch die Alpen, Rogner & Bernhard, 160 S., 17,95 Euro