Liebe und Lügen: Ian McEwans „Honig“

Serena Frome ist jung, schön, begabt. All das weiß die Absolventin eines Mathematikstudiums in Cambridge sehr wohl. Die Tochter eines anglikanischen Bischofs und einer aufopfernden Hausfrau fühlt sich geradezu verpflichtet, Karriere zu machen. Ein Professor, der zum väterlichen Liebhaber wird, nimmt sich der „Erziehung“ der Vielleserin an, bestärkt sie in ihren eher konservativen Ansichten und weckt ihre Lust auf Luxus. Als er sie verlässt, fällt Serena in ein tiefes Loch. Da kommt der britische Geheimdienst M15, dem er die junge Geliebte ans Herz gelegt hat, gerade recht. Die junge Frau lässt sich anwerben, ja sie fühlt sich als etwas Besonderes trotz der frauenfeindlichen Atmosphäre im Inner Circle.  

Für die Operation „Honig“, mit der man junge Publizisten für die eigene Sache ködern will, kann Serena sich schnell erwärmen. Und für den jungen Autor Tom Haley empfindet sie bald mehr als nur professionelles Interesse. Die Quellen, aus denen das Stipendium, das sie ihm andient, kommt, verrät sie ihm nicht. Die Lüge, die zwischen ihnen steht, belastet Serena zwar. Aber sie sieht sich außerstande, ihrem Geliebten die wahren Hintergründe zu offenbaren. So verstrickt sie sich mehr und mehr in ein Geflecht von Lügen und Heimlichkeiten, während Tom seinen ersten großen Erfolg mit einem Roman feiert, der den Interessen von Serenas Auftraggebern zuwider läuft. Mit der  Dystopie einer in Auflösung begriffenen Gesellschaft wird Tom zum Shooting Star eines launischen Literaturbetriebs, und Serena ahnt, dass ihr Versteckspiel bald ein Ende haben wird. Es kommt schneller als gedacht und vor allem ganz anders. 
Denn in diesem Roman, der nur oberflächlich ein Spionage-Thriller ist, zeigt sich Ian McEwan als großartiger Strippenzieher. Er lässt nicht nur den unbedarften Tom in die Honigfalle der süßen Serena tappen, sondern führt auch die Leser an der Nase herum. Ist es wirklich Serena, die 40 Jahre später ihre Geschichte erzählt? Eine Geschichte, die zurückführt in das Großbritannien der Siebziger Jahre, ein Land am Rand des Nervenzusammenbruchs, als die IRA ihre Bombenattentate verübte, der Ölschock Europa im Klammergriff hielt und der Kalte Krieg die Hirne vernebelte. In die Zeit auch, als der junge Ian McEwan seine ersten literarischen Gehversuche machte. Nicht von ungefähr trägt Tom Haley Züge des Autors, erinnern die Auszüge seiner Geschichten an McEwan
Und auch der Hintergrund, vor dem der englische Bestseller-Autor seinen Roman inszeniert, ist nicht erfunden, wie McEwan in einem Interview mit der Zeit verriet: „George Orwells „Die Farm der Tiere“ wurde in 17 Sprachen übersetzt, das Geld kam vom MI6, dem Auslandsgeheimdienst. Die Beteiligten wussten in den meisten Fällen gar nicht, woher das Geld stammte. Dieses Paradox war die Ausgangsidee für meinen Roman: dass man die freie Gesellschaft stärken wollte, dies aber heimlich tat.“ McEwans meisterhaft komponierter Roman über Sein und Schein, Wirklichkeit und Inszenierung, Liebe und Lüge, Lesen und Dichten in der Vor-Thatcher-Ära gibt eine Ahnung von der Manipulierbarkeit des Einzelnen und des Ausgeliefertseins an undefinierbare Mächte, die hier als graue Bürokraten erscheinen.  
Und heute in Zeiten des NSA-Skandals? Sind Themen wie Verrat und Überwachung aktueller denn je. Aber man braucht wohl keine honigsüße Versuchung mehr, um Menschen auf eine falsche Fährte zu locken.  
Info: Ian McEwan, Honig, Diogenes, 448 S., 22,90 Euro        

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