Vordergründig erzählt „Ladivine“ in komplexen Verschlingungen und einer fast rauschhaften Sprache eine Mehrgenerationen-Geschichte, die um einen familiären Schandfleck kreist. Urheberin dieses unauslöschlichen Makels ist Ladivine Sylla: Sie ist schwarz, ihre Tochter Malinka aber ist weiß – wie der noch vor der Geburt verschwundene Vater. Und Malinka identifiziert sich mit dieser weißen Hautfarbe, sie will dazu gehören. Da ist die schwarze Mutter nur ein Störfaktor, „die Dienerin“ nennt Malinka sie und schämt sich gleichzeitig für die Demütigung, die sie der aufopfernden Mutter zumutet. Mit dem neuen Namen Clarisse, der so hell klingt, will sich Malinka endgültig die Vergangenheit abstreifen. Sie heiratet einen weißen Kleinbürger, dem sie die Mutter ebenso verschweigt wie der – weißen – Tochter, die mit dem Namen der unbekannten Großmutter leben wird. Doch Malinka/Clarisses Verschleierungsstrategien ersticken ihre Gefühle, die Spontaneität, die ihren Charme ausmachte.
Das Familienleben vereist, der Ehemann flüchtet in die Arme einer anderen Clarisse und Ladivine II nach Berlin zu einem Uhrenverkäufer. Das gibt Marie NDiaye Gelegenheit, die Stadt, in der sie seit drei Jahren mit ihrer Familie lebt, ins Spiel zu bringen, das „architektonische Chaos ohne jede Sanftheit und Ironie“. Im Charlottenburger Rathaus gibt Ladivine Französischkurse. Sie hat sich eingerichtet in einer faden Bürgerlichkeit. Nicht einmal der Mord an ihrer Mutter kann sie aus der Lethargie reißen. Malinka/Clarisse ist Opfer des Mannes geworden, dem sie sich endlich ganz offenbaren konnte, weil sie in ihm den Außenseiter, den Underdog, erkannte. Ihm konnte sie auch die Mutter vorführen, die so das kurze Glück erlebte, mit der geliebten Tochter versöhnt zu sein.
Als Ladivine II in einem nicht benannten afrikanischen Land mit ihrer Familie Urlaub macht, begegnet ihr ein Hund, den sie sogleich als den ihr zugedachten Wächter identifiziert, womöglich als den Geist ihrer toten Mutter in Hundegestalt. Das erste Mal, als ein solcher Hund auftauchte, war sie noch ein Baby. Mitgebracht hatte das Tier, das sich sogleich auf das Kleinkind im Bettchen setzte, der Großvater, und auch bei dessen Tod war der Hund zugegen. Nun also ist er wieder aufgetaucht irgendwo in Afrika, wo die Familie gestrandet ist. Denn in diesem Urlaub geht von Anfang an alles schief. Der Koffer wird gestohlen, die Klamotten tauchen als Ware am Wegesrand wieder auf. Das Hotel entpuppt sich als öde Absteige, und die Familie geht einem Tagedieb auf den Leim, den Ladivines völlig verwandelter Mann in einem Zweikampf vom Balkon stürzt.
Immer wieder wird Ladivine mit Menschen konfrontiert, die vorgeben sie zu kennen. Immer öfter lässt sie sich auf das Spiel ein, eine andere zu sein. Und immer öfter hat sie das Gefühl angekommen zu sein, bis sie schließlich im Urwald verschwindet – oder sich in einen Hund verwandelt. Denn ihre Tochter Annika glaubt nach der Heimkehr in einem Hund die Augen der vermissten Mutter zu erkennen:
„Dennoch war Annika überzeugt, daß nichts und niemand ihre Mutter gezwungen hatte, auf diese distanzierte, unbequeme Art mit ihnen zusammenzuleben, und daß sie eine Zuflucht gefunden hatte in dieser Hundehaut, die ihr, auch wenn sie sie nichthinreichend gegen die Kälte schützte, besser entsprach als ihre Frauenhaut. Das wusste Annika, so war es.“
Es ist nur eine hauchdünne Naht, die bei Marie NDiaye die reale von der magischen Welt trennt. Wer sich auf ihre Vexierbilder einlässt, wird mit einem Leseerlebnis belohnt, das lange nachwirkt.
Info: Marie NDiaye, Ladivine, ins Deutsche übertragen von Claudia Kalscheuer, Suhrkamp, 446 S., 22,95 Euro