Judith Kucharts Roman "Kaiserstraße" spiegelt 40 Jahre deutsche Gesch ichte anhand einer deutschen Kleinfamilie aus der Provinz.
"Ja, seine Liz hatte nach zwei Tagen bereits Heimweh und er an ihrer Seite Fernweh bekommen. Denn Liz sah die Welt grundsätzlich anders als er. Sie sah gar nicht erst richtig hin. Zum ersten Mal hatte er da gedacht, dass jeder von ihnen ein so kleines Leben führte, so klein, dass ein anderer kaum Platz darin fand.”
Den „kleinen Böwe” nennen sie ihn, die Kollegen Vertreter. Leo Böwe macht in Waschmaschinen, erfolgreich. Und als er in die Politik geht, ist er mit seiner Vertretermasche ebenfalls erfolgreich. Fast so erfolgreich wie bei Frauen. Leo Böwe kann sich nicht mit einer Frau zufrieden geben. Auch nicht mit zwei. Denn Liz hat ihm eine Tochter geboren.
Judith Kuckart erzählt in „Kaiserstraße” 40 Jahre deutsche Geschichte, in dem sie die Geschicke der kleinen Familie Böwe mit großen Wendepunkten der Republik verknüpft: 1957, 1967, 1977, 1989 und 1999. Das kann nicht immer gut gehen, wirkt oft aufgesetzt, überinszeniert. Etwa wenn die kleine Jule angesichts des erschossenen Benno Ohnesorg sagt: „Papi, wenn ich groß bin, erschieß‘ ich dich auch.” Man kennt einige der Figuren, die auf- und wieder abtreten, auch wenn sie sich hinter neuen Namen verbergen, die durchsichtig sind wie ein Schleier.
Wie eine Art Leitmotiv begleitet der Mord an der Edelprostituierten Rosemarie Nitribitt den Roman. Die Nitribitt verkörpert für Böwe alles, was er sich von einer Frau erträumt und was Liz ihm nicht geben kann. So flüchtet er sich in die Arme einer anderen, die wenigstens Rosemarie heißt.
Auch Jule flüchtet sich in andere Arme, in die des schönen Otto, der so eloquent über die Studentenbewegung dozieren kann und der dann doch auch nur ein Mann ist, wenn auch der Vater ihres Kindes. Und am Ende landet sie erfolgreich in ihrem Beruf aber unerfüllt bei einem Mann, der ihr Sohn sein könnte. Ihre Mutter stirbt, als sie in Amerika ist, zum Vater hat sie längst keinen Kontakt mehr. Nur die Nitribitt geistert immer noch durch ihre Gedanken, denn „das Persönlichste was Jule von ihm wusste, war Leo Böwes Leidenschaft für Rosemarie Nitribitt”.
Diese Leidenschaft ist das einzige, was Bestand hat in einer sich wandelnden Welt, in der alle Sicherheiten schwinden und die Werte sich umkehren. Judith Kuckart hat ein interessantes Zeitdokument geschrieben, spröde manchmal, immer engagiert und hin und wieder verwirrend. Trotzdem, eine lesenswerte Lektion in Sachen deutscher Befindlichkeit. Lilo Solcher
Judith Kuckart, Kaiserstraße, DuMont, 315 S-. 19,90 ¤