Im Fegefeuer der virtuellen Eitelkeiten: Anthony McCartens „Ganz normale Helden“

Anthony McCarten hat das Ohr am Puls der Zeit. Der neuseeländische Autor, der mit „Superhero“ (unter dem deutschen Titel „Am Ende eines viel zu kurzen Tages“ auch in den deutschen Kinos) einen Senkrechtstart hingelegt hat, hat jetzt nachgelegt. „Ganz normale Helden“ schreibt die Geschichte der Familie Delpe fort, die nur mit Mühe den Tod ihres Sohnes Donald verkraftet.

Bruder Jeff kann die Bürde nicht mehr tragen und flüchtet ins Internet. Dort wird er zum Star eines süchtig machenden Online-Spiels. Während Mutter Renata sich ebenfalls im Internet Trost holt – beim Chat mit einem Unbekannten namens Gott, träumt Vater Jim davon, den Delpes eine neue Existenz auf dem Land aufzubauen. Wie sehr Jeff sich durch den  Verlust des Bruders verändert hat, entgeht den Eltern. Erst als der Junge nach einem Streit einfach verschwindet, wachen sie auf. Im Internet begibt sich der Vater auf die Suche nach dem verlorenen Sohn und er entdeckt ganz neue Seiten an sich selbst.
Der Anwalt, der im wirklichen Leben jede Art von Waffe ablehnt, genießt geradezu den Kugelhagel, mit dem er die Feinde überzieht. Zumindest im virtuellen Leben will er auch mal der Held sein und verliert dabei beinahe sein Ziel, Jeff aufzuspüren, aus dem Auge: „Dieses Spiel macht mich zum Kind, begreift Jim. Schau dir doch an, wie mich das allmählich zersetzt, mich davon abhält, echte Arbeit zu tun, mich mit Traumwelten umgarnt, mit welcher Raffinesse es dem Erwachsenen in die Erlebniswelt eines Kindes zurückversetzt, mich mit seinem Spektakel, seiner Geschäftigkeit verführt, bis kritisches Denken allmählich unmöglich wird.“
Während Renata auf der verzweifelten Suche nach Jeff sich selbst zu verlieren droht, kommuniziert der vereinsamte Jim mit der weiblichen Stimme seines Navis und erliegt im Spiel dem Charme eines weiblichen Atavars. In seinen Gedanken und Träumen geht er mit der faszinierenden Frau fremd, betrügt Renata, die sich seinen Annäherungsversuchen immer wieder entzogen hat. Und wie bei Jeff, der sich im Spiel in eine homosexuelle Affäre verstrickt hat, schwappt auch bei Jim die virtuelle Realität in den wirklichen Alltag über. Beinahe gelingt es dem unheimlichen Regisseur, der auch hinter Renatas Chatfreund zu stehen scheint, die Familie Delpe zu zerstören. Buchstäblich in letzter Minute durchschaut Jeff den perfiden Plan. Der Junge, der sich im Online-Spiel zum Helden machte, wird in der Realität zum Retter seiner Familie. 
Anthony McCarten hat viel hineingepackt in diesen Roman, der so nah dran ist an unserem heutigen Online-Alltag und uns auf seine Art zeigt, dass es kein richtiges Leben im falschen gibt. Wie im virtuellen Spiel müssen die Delpes sich von Level zu Level hocharbeiten. Doch schon das Inhaltsverzeichnis deutet an, dass dies letztlich nicht alles ist. Am Ende des Buches steht das Kapitel „Der Anfang“ und das lässt hoffen. Darauf, dass es die Delpes nach diesem Fegefeuer der virtuellen Eitelkeiten schaffen, in die banale Realität zurückzufinden und darauf, dass Anthony McCarten diese Familie noch länger begleitet. 
Info: Anthony McCarten, Ganz normale Helden, Diogenes, 454 S., 22,90 Eu

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