Glückliches Leben mit vielen Leichen im Keller

Es ist mal wieder angerichtet bei Ingrid Noll. „Der Mittagstisch“ heißt der neue Krimi aus der  Feder der Grande Dame des deutschen Krimis, die kürzlich ihren 80. Geburtstag feiern konnte.  Hoffentlich bei bester Gesundheit. Immerhin hat sich die alte Dame in 25 Jahren und 17 Büchern jede Menge böser Gedanken von der Seele geschrieben.
Und davon muss sich viel angesammelt haben, bis die zwei Söhne und die Tochter 1991 endlich aus dem Haus waren.
Gängige Hobbys wie Reisen, Lesen,Zeichnen waren der verwaisten Mutter nicht genug. Sie wollte mehr mit ihrer Zeit anfangen und begann Geschichten zu schreiben, so wie sie
es schon als Kind getan hatte. Dass gleich ihr erster Versuch „Der Hahn ist tot“ einschlug, sieht die Autorin als Glücksfall. Geholfen haben ihr dabei ihre leichtfüßige Sprache, die
freundliche Ironie, mit der sie ihre Protagonisten beschreibt, und die Tatsache, dass sie Mord und Totschlag aus der Sphäre des Abnormen in den Alltag zurückgeholt hat. Liest
man nach bei Noll, wird man das Gefühl nicht los, dass jedes Lieschen Müller seine Leichen im Keller hat.
Die Autorin, 1935 in Shanghai als Tochter eines Arztes geboren und später in der Arztpraxis ihres Mannes tätig, kennt sich mit menschlichen Schwächen aus, den körperlichen wie den seelischen. Schon in „Der Hahn ist tot“ zeigte sie, was ihre Krimis ausmacht: Wie ganz normale Menschen, meist Frauen, zu Mördern werden und wie sie
nach vollbrachter Tat weiterleben –ganz ohne schlechtes Gewissen. Rabenschwarz
ist der Noll’sche Humor, das Markenzeichen der Spät-, aber Senkrechtstarterin im deutschen Krimi-Betrieb. „Es macht mir durchaus Freude, über perfide Rache zu schreiben“, sagt sie unverblümt.
Über die Jahre wurden die Protagonistinnen älter, beseitigten aber immer noch lästige Männer und verhasste Rivalinnen. Mitunter bekamen sie Konkurrenz von Jüngeren wie Nelly im „Mittagstisch“, dem neuesten Roman von Ingrid Noll.  Die alleinerziehenden
Mittdreißigerin bekocht ein paar private Gäste und bessert so das Familieneinkommen
auf. Als sie sich in einen Mit-Esser verliebt, dessen Freundin sich als intrigante Nervensäge entpuppt, kocht Nelly ein ganz besonderes Gericht … Doch wie so oft bei Ingrid Noll nutzt es auch Nelly wenig, dass sie die Rivalin aus dem Weg geräumt hat: Der Angebetete entpuppt sich als Langweiler. Die Rache der Mauerblümchen, der zu kurz Gekommenen – das ist Ingrid Nolls immer wiederkehrendes Thema, ihr Erfolgsrezept. Sie kenne ihre Personen gut, sagte die Autorin in einem Zeit-Interview, „ich nehme sie mit in meine Träume, und sie sitzen bei mir auf dem Sofa und trinken Tee.“
Möge Ingrid Noll noch lange mit ihren jungen und alten Mörderinnen Tee trinken und noch viele charmant-amoralische Krimis schreiben. Die Aussichten sind gut: Ihre
Großmutter wurde 105, die Mutter 106. Da hat sie noch einige produktive
Jahre vor sich.
Info: Ingrid Noll, Der Mittagstisch,  Diogenes, 224 S., 22 Euro

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