Harold Cleaver ist ein erfolgreicher Fernsehjournalist, buchstäblich ein Schwergewicht. Auf dem Höhepunkt seiner Karriere – die ganze Welt spricht von seinem spektakulären Interview mit dem amerikanischen Präsidenten – flieht er in die Einsamkeit der Südtiroler Berge. In einer verlassenen Berghütte will Cleaver in aller Stille zu sich selbst finden und sich darüber klar werden, was er von dem Buch seines Sohnes hält. „Im Schatten des Allmächtigen“ ist eine kaum verhüllte Abrechnung mit dem erfolgreichen Vater.
Cleaver trennt sich von allem, was ihn mit der Zivilisation verbindet,
kappt die E-Mailverbindung und verzichtet auf seine Lesebrille.
Fernsehen und Radio gibt es auf dem Berg ohnehin nicht. Nur mit dem
Nötigsten ausgestattet, zieht er auf eine Hütte in einer schattigen
Scharte, deren letzter Bewohner vor kurzem gestorben war. Sprachlos,
weil er die Sprache der Bauern nicht versteht, fühlt sich Cleaver auf
sich selbst zurückgeworfen, neu wie Adam am ersten Schöpfungstag.
Doch die Euphorie hält nur kurz. Der feiste Mittfünfziger hat
schließlich ein halbes Leben hinter sich, ein Leben, das sich nicht
draußen vor der Türe abstellen lässt wie die Puppe, die er zum
Zeitvertreib mit auf den Berg genommen hat. Die Erinnerungen bedrängen
ihn, die journalistische Neugier macht ihm zu schaffen. Was ist das
Geheimnis des alten Mannes, der vor ihm hier ausgeharrt hatte?
Eingeschneit in der selbst gewählten Einsamkeit muss Cleaver erkennen,
dass die Stille für ihn nicht heil ist. Im Gegenteil, in seinem Kopf
laufen Filme ab, wie er sie in seinen Zeiten als Fernsehjournalist
nicht besser oder erschreckender hätte drehen können.
Die Hölle, das sind nicht die anderen. Die Hölle, das sind für Cleaver
die Stimmen im eigenen Kopf, die er nicht abschalten kann. Die
Erinnerung an die Tochter, die bei einem Unfall ums Leben kam, während
er selbst bei einer Geliebten war, vermischt sich mit Szenen aus dem
Buch des Sohnes und mit Gedanken über die Bauernfamilie, in deren Hütte
er Zuflucht gefunden hat. „Sein Geist war ohrenbetäubend laut“, die
Gedanken schienen „zu implodieren“. Cleaver spürt, dass er gefährlich
nah am Abgrund steht, wenn es ihm nicht gelingt, die gefährliche Stille
zu zerreißen…
Tim Parks Porträt eines eitlen Mannes, der seine besten Zeiten hinter
sich hat und der unbewusst versucht, sein Leben durch seine Flucht neu
zu inszenieren, ist ein großartiger Psychothriller, spannend bis zum –
offenen – Ende. In der dichten, manchmal fast fiebrigen Sprache
spiegelt sich die Unruhe des alten Fernsehjournalisten, sein
Unvermögen, die Dinge so zu belassen wie sie sind. Allem und jedem muss
Cleaver eine Geschichte geben, muss sie Film reif machen,
bedeutungsschwer. Selbst für seinen Tod fällt ihm eine Art Drehbuch
ein. Der Mann kann nicht aus seiner Haut, wohin er auch geht, er wird
sich selbst und seine Geschichte nicht los.
Info: Tim Parks, Stille, Kunstmann, 359 S. 22 €
14Aug. 2006