Ein Schuber Buntes: Aka Morchiladzes „Santa Esperanza“

Santa Esperanza
(Buch)
Autor: Aka Morchiladze
Verlag: Pendo
Erschienen am: 2006-12
Seiten: 850
ISBN: 386612094X

Es ist ein ganz und gar ungewohntes Lese-Erlebnis: ein Buch in 36 regenbogenbunten Heften – neun braune, neun gelbe, neun grüne und neun blaue in einem rostbraunen Filzschuber. Man kann sie nacheinander lesen – von braun zu blau (von Weinrebe über Brombeere und Distel zu Säbel), von hinten nach vorne oder durcheinander. Wenn die Farben und Hefte neu gemischt werden, erscheinen die Geschichten in einem anderen Licht – wie beim Kartenspiel „Inti“, das auf dem fiktiven Archipel des georgischen Autors eine so große Rolle spielt. Dem kleinen ambitionierten Pendo-Verlag ist es zu verdanken, dass Aka Morchiladze seine Idee eines Romanpuzzles auch bei uns verwirklichen konnte.Das „Inhaltsverzeichnis des Herumtreibers“ ist eine Art Wegweiser durch
den Dschungel von Morchiladzes wild wuchernder Fantasie, den er selbst
einen „Sack voller Märchen“ nennt. Und die Leser reisen im Kopf durch
die „Insel der Hoffnung“, die nach der Entlassung in die Unabhängigkeit
durch die „Anglesen“ in Bürgerkriegswirren versinkt. Hier geht es nicht
gesittet zu wie bei der Übergabe von Hongkong an China. Clans und
Cliquen kämpfen ohne Rücksicht auf die Menschen um Geld und Macht.
Keiner kann dem anderen trauen: die arroganten Wisramianis, die
einflussreichen genuesischen Händler Da Costa und die ungebildeten
Sungalen sind einander spinnefeind und die greise Urenkelin des
einstigen Machthabers, Spielball der Briten, kann in der aufgeheizten
Stimmung keinen Frieden stiften. Kaia, die stolze, traditionsbewusste
Wisramiani-Tochter, besetzt mit ihren Leuten ganze Inselteile, die
Sungalen kochen ihr eigenes Süppchen und dazwischen agieren die
Kriegsgewinnler. Die Hoffnungsträger bringen sich selbst ums Leben, die
Revolution frisst ihre Kinder. Eine düstere Vision knallbunt verpackt.

Natürlich hat Morchiladze mit Santa Esperanza eine Parabel auf seine
Heimat Georgien geschrieben, die mit Erlangung der Unabhängigkeit ins
Elend stürzte. Man kann das Romanpuzzle als Anklage gegen die Welt
sehen, die dem Morden in kleinen Ländern untätig zusieht. Man kann es
aber auch als „Sack voll Märchen“ lesen. Und der belesene Morchiladze
hat reichlich eingepackt: Shakespeares Romeo und Julia lassen grüßen,
das biblische Brüderpaar Kain und Abel, Die Schatzinsel oder Der Pate.
Namen sind hier nicht Schall und Rauch, sondern ganz bewusst nach
literarischen Vorbildern ausgewählt. Wer mag, kann auch da auf
Spurensuche gehen. Und natürlich erzählt der Georgier nicht
chronologisch. Wie denn auch in dieser anarchischen Fantasiewelt.
Morchiladze verwebt Auszüge aus Tagebüchern und Zeitungsartikel, Briefe
und Kirchenchroniken, kleine Geschichten, Reiseberichte und
Internetseiten zu einem kunterbunten Flickenteppich, aus dem sich ein
Vexierbild herausschält. Auf der einen Seite ist Santa Esperanza die
Endstation Sehnsucht für ihre Bewohner, auf der anderen Seite ein
Touristenparadies aus der Hochglanz-Welt der Reiseprospekte: exotisch,
schön und unbegreiflich.
Wie man diesen rostbraunen Filzschuber auch immer auspackt: er steckt voller Überraschungen.

Info: Aka Morchiladze, Santa Esperanza, Pendo, 36 Hefte im Filzschuber, 27,50 Euro

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