Ein Wintermeer war die Ostsee lange Zeit, klimatisch und politisch. Vorbei. Das politische Tauwetter hat das Meer, das der Eiserne Vorhang teilte, in die Mitte Nordeuropas geschoben. Die Ostsee markiert nicht länger die Bruchlinie zwischen den Blöcken. Sie vereinigt heute den Norden und Nordosten Europas und ist so zum „kleinen Bruder des Mittelmeers“ geworden, Sommerfrische inklusive. Wird jetzt die Ostsee zum Sehnsuchtsziel?Christoph Neidhardt, der die Länder an der Ostsee jahrelang bereist hat und bekennender Fan ist, könnte es sich vorstellen, auch wenn die Länder rund um dieses lange verkannte Meer noch längst nicht von den Trampelpfaden des Massentourismus durchzogen sind. Warum, das schreibt er in seinem lesenswertem Buch „Das Meer in unserer Mitte: Ostsee“, ein Geschichtsbuch der unterhaltsamen Art und zugleich ein wunderbarer, kluger Begleiter für Reisende, die sich diese widersprüchliche Gegend erschließen wollen: Schweden, das „unbeschwert durch die Jahreszeiten“ glitt. Polen, das „Heimweh nach dem Zwischeneuropa“ zu haben scheint. Das lettische Riga, „immer zu groß, zu weltläufig für seine Lage am Rand des jeweiligen Reiches“. Norwegen, „das Land der Verwöhnten und Übersatten“. Vom Büchermeer, aus dem Namen wie Henrik Ibsen und August Strindberg, Hans Christian Andersen und Sören Kierkegaard, Per Olov Enquist, Puschin und Dostojewskij, Thomas Mann, Günter Grass und Paavo Haavikko herausragen, schreibt Neidhardt und vom Milchsäuremeer, weil die Länder an der Ostsee „Sauerkrautkulturen“ waren. Von den Kriegen, die rings um dieses Meer tobten von Frühzeit an und von den Leuchtturmträumen, zu denen diese europäische See heute einlädt: „Sie ist groß genug, uns die Sehnsucht nach dem weiten Meer zu gönnen, mit ihren schnellen Wolken und dem großen Himmel, und gleichsam nah, eng, mütterlich, sanft ein Zuhause, eine Zwischenwelt.“
Info: Christoph Neidhardt, Das Meer in unserer Mitte Ostsee, marebuchverlag, 408 Seiten, 24,90 Euro, ISBN 978-3-86648-054-4
30Apr. 2007