Für die ZEIT ist dieser ausufernde, aufwühlende Roman „die europäische Antwort auf Jonathan Franzen“. Der Niederländer Peter Buwalda, 1971 in Brüssel geboren, hat mit seinem gut 600 Seiten dicken Erstling „Bonita Avenue“ die Kritiker gleich reihenweise aufgeschreckt. Diese Familiensaga, die wie ein Sprengsatz in das bislang feste literarische Gefüge platzt, ist eine Kriegserklärung an die Gattung Familienroman.
Es ist eine Patchworkfamilie, die Peter Buwalda über vier Jahrzehnte begleitet – von der kalifornischen Idylle in der Bonita Avenue in den 1970er Jahren bis zur Höllenfahrt am kalten Weihnachtsabend des Jahres 2008. Im Mittelpunkt steht Siem Sigerius, der geniale Mathematiker „wie eine leuchtende Sonne“. Der Universitätsrektor mit Aussicht auf den Posten des Wirtschaftsministers lebt mit seiner Frau Tineke und den beiden Töchtern Joni und Janis in einem umgebauten Bauernhaus bei Enschede, jener Stadt, in der 2000 eine Feuerwerksfabrik explodiert. Zur gleichen Zeit implodiert das geruhsame Leben der Familie Sigerius. Als erster ahnt Aaron, der psychotische Freund der schönen Joni, dass es auch in dieser bürgerlichen Idylle Leichen im Keller gibt, totgeschwiegene Geheimnisse, Dinge, über die niemand reden will. Wie über Siems erste Ehe und den Sohn, den er zurückgelassen hat, als er mit Tineke und ihren Töchtern ein neues Leben begann. Als dieser Sohn, Wilbert, ein in seiner Obszönität Fleisch gewordener Alptraum, auftaucht, beginnt ein Höllentrip, der in einem obszönen Schlachthausmassaker endet, das jedem Trash-Film Ehre machen würde.
Peter Buwalda führt seine Leser in Ellipsen und konzentrischen Kreisen über Rückblicke und Perspektivwechsel tief hinein in das Familiendesaster. Wilberts Bösartigkeit scheint ansteckend. Warum sonst wäre Joni auf die Idee gekommen, zusammen mit Aaron eine Pornoseite aufzubauen, die ihren Stiefvater aller Sicherheiten beraubt? Oder hat alles schon viel früher begonnen, mit Siems eigenen Kinder-Lügen? Hat nicht er den kleinen Sohn im Stich gelassen, ihn der alkoholkranken Mutter ausgeliefert? Hat nicht er auf Pornoseiten gesurft, um sich zu befriedigen und ist dabei auf Joni gestoßen? Noch hält Siem seine Scheinwelt zusammen. Er will Karriere machen, will sich beweisen, dass er über allem steht. Doch schon längst wankt der Boden unter seinen Füßen.
Als der Professor dann im Haus von Aaron und Joni der Tatsache nicht mehr ausweichen kann, dass seine Stieftochter eine Internet-Hure ist, sieht er sich selbst bloß gestellt. Mit den Kleidern, derer er sich entledigt, entledigt er sich auch seiner bürgerlichen Existenz. Und als er von den Heimkehrern überrascht wird, springt er – nur mit einem von Jonis Tangas bekleidet – durch die gläserne Balkontür. Mit diesem Sprung durch die zersplitternde Scheibe zerplatzen auch alle bisherigen Gewissheiten, zerbricht die Familie endgültig, beginnt der Irrsinn.
Nichts ist mehr so wie es sein sollte. Joni hat in Kalifornien Karriere als Porno-Produzentin gemacht, der von ihr verlassene Aaron verfällt in eine selbstmörderische Psychose. Sigerius muss sich wegen eines Erpresserbriefes gegenüber der sonst so leichtgläubigen Tineke rechtfertigen und glaubt immer noch, seine Karriere und seine Ehe retten zu können – bis sein schlimmster Alptraum Gestalt annimmt: Wilbert, das „gefährliche Gelump“, das er in die Welt gesetzt hat. Vater und Sohn liefern sich im leeren Bauernhaus einen Kampf auf Leben und Tod, den Sigerius gewinnt. Wilbert erfriert im Schnee und wird von seinem Vater zersägt und zerhackt. Am Ende erhängt sich Siem auf dem Luxusboot, das sich Joni und Aaron aus dem Porno-Geld gekauft hatten.
Peter Buwalda nutzt suggestive Bilder, Anspielungen auf andere Autoren, Metaphern. Sein Stil ist vorwärtsdrängend, durchsetzt mit Andeutungen wie dieser: „Wir lebten auf dekadentem Boden, auf sich übereinanderschiebenden Erdplatten, in einer Stadt, die jeden Moment wackelnd und bebend einstürzen und in einer Spalte verschwinden konnte.“ Was Joni über Los Angeles sagt, trifft auch auf die Familie Sigerius zu: Nach Siem Höllensturz suchen die Überlebenden auf schwankendem Boden nach einer neuen Identität. Und der Leser hat nach diesem grandios-trashigen Familienthriller Mühe, in die Normalität zurückzukehren.
Info: Peter Buwalda, Bonita Avenue, Rowohlt, 634 S., 24,95 Euro.