Der schöne Schein: Las Vegas 100, Disneyland 50

"Wenn das die beste aller möglichen Welten ist, dann möchte ich erst die übrigen sehen.” Der große Aufklärer Voltaire würde sich wundern. Parallelwelten lassen sich schon längst nicht mehr ins Reich der Sagen und Legenden verweisen. Es ist das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, das solche Träume wahr werden ließ: Vor 100 Jahren wird in der Wüste von Nevada Las Vegas gegründet, das mit der Legalisierung des Glücksspiels 1931 und der Eröffnung der ersten Casinos zum Synonym einer Kunstwelt wird. Allerdings entstehen die weltberühmten Themenhotels rund um den Strip erst in den 50er Jahren. Etwa zur gleichen Zeit, genauer am 17. Juli 1955, eröffnet der Zeichentrickfilmkönig Walt Disney bei dem kalifornischen Anaheim den Vergnügungspark Disneyland, eine Art immerwährendes Traumland für Kinder und Kind gebliebene Erwachsene. Und der Trend ist ungebrochen, scheint sogar noch zuzunehmen: Die Welten des schönen Scheins sind heutzutage „in”, und schon fürchtet Freizeitpapst Horst Opaschowski, die natürliche Welt könnte ihren Reiz verlieren, weil sie nicht mehr das bieten kann, was die Menschen in künstlichen Welten finden.
In Dubai setzt Scheich Mohammed Bin Rashid Al Maktoun die Welt ins Meer, in der afrikanischen Wüste hat Sol Kerzner mit Sun City ein eigenes kleines Universum errichtet und auf den Bahamas hat er das versunkene Atlantis zu neuem Leben erweckt. In der brandenburgischen Einöde lockt tropisches Flair mit Palmen und lauen Lagunen (siehe Seite 2), Skipisten und Almhütten machen eine alte Fabrikanlage zum Winterdorado. Es scheint, als sei Künstlichkeit das Motto unserer Zeit. Doch Freizeitparadiese aus der Retorte sind kein neuzeitliches Phänomen, nicht einmal eine Erfindung des 20. Jahrhunderts, wie uns die runden Jubiläen von Las Vegas und Disneyland glauben machen. Weil unsere Welt eben nie die beste aller Welten war, trieb die Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies die Menschen aller Zeiten um. Arkadien hieß das Traumland der Antike. Gemeint war nicht das wirkliche Arkadien, ein karges Hochland mitten auf dem Peloponnes, sondern Vergils poetisches Traumland. In seinen Hirtengedichten bediente der römische Dichter schon 42 v. Chr. den ewigen Menschheitstraum von seligen Zeiten in einer heiteren, friedvollen Umgebung. Vergils Hirten waren nicht von dieser Welt: sie erfreuten sich zeitloser Jugend in überirdisch schöner Landschaft. Ihr Arkadien wurde zum Inbegriff der Welt des schönen Scheins. Noch im Rokoko galt die Schäferidylle und mit ihr der naive Naturzustand als Gegenentwurf zur Morbidität der abgewirtschafteten Monarchie. Dreidimensionalen Ausdruck fand die Sehnsucht nach Arkadien dann im englischen Garten und in künstlichen Ruinen. Schon bald entstanden artifizielle Erlebniswelten, in denen der Adel Entspannung fand. Der preußische König baute auf der Pfaueninsel nahe Berlin im 19. Jahrhundert eine historisch inspirierte Kulissenlandschaft. Kaiserin Sisi ließ im Achilleum auf Korfu die Antike wieder aufleben und Bayerns Märchenkönig Ludwig II. schuf sich in den Schlössern seine eigene Welt. Vor allem Neuschwanstein entsprach den romantischen Vorstellungen einer idealen Ritterwelt. Richard Wagners Schwanenritter Lohengrin und der Dichter Tannhäuser standen den Bühnenbildnern Pate bei der Dekoration. Grotte und Gralshalle vervollständigten für den schöngeistigen Ludwig die Illusion eines Mittelalters als Gegenentwurf zu der ach so schnöden Wirklichkeit. Neuschwanstein wurde zum Traumschloss aller Realitätsflüchtigen, nachdem Walt Disney es 1955 als Pappmaché-Kulisse in sein Disneyland bei Ana\-heim in Kalifornien gestellt hatte. Der Herrscher über ein Zeichentrickimperium wollte schon längst die Welt nach seinem Bild gestalten und die Zukunft neu erfinden. Die beste aller Welten sah nach seinem Plan so aus, dass alle Menschen friedlich und freundschaftlich unter einer Kuppel zusammenlebten. In ihrer Welt sollte die Sonne nie untergehen und der Tod ein Fremdwort sein. Doch nicht einmal in Amerika war die Zeit reif für solche Ideen. Statt des großen Wurfs wurde es dann doch nur ein Mäusekönigreich. In seinem überdimensionalen Spielzimmer verwirklichte der Schöpfer Disney eine Parallelwelt mit vermenschlichten Tieren, zeitlos und aufgeräumt. In dieser Welt existieren Vergangenheit und Zukunft gleichzeitig ­ Frontier Land neben Space Mountain ­ getreu dem Motto am Eingang: „Hier lassen Sie das Heute zurück und begeben sich in die Welt von Gestern, Morgen und der Fantasie”. Es gibt keine Probleme, keine kulturellen Unterschiede, keine Daten, keine Namen, keinen Tod; aber dafür ist alles käuflich.
Disneyland wurde zum Traumland für die Massen, ein demokratisches Arkadien, in dem die Erwachsenen wieder zu Kindern werden. Und obwohl der Eröffnungstag als „Schwarzer Sonntag” in die Geschichte einging ­ der Park war dem Ansturm der Gäste nicht gewachsen, die teilweise im frischen Asphalt kleben blieben ­, wurde Disneys Zauberformel zur Erfolgsgeschichte. Der Schöpfer Disney starb zehn Jahre nach der Eröffnung von Disneyland, doch er hatte vorgesorgt und seiner Idee mehr Platz verschafft. 1971 wurde Disneyworld in Florida eröffnet, bis heute der größte Vergnügungspark der Welt. „Solange es Fantasie in der Welt gibt, wird Disneyland nie ganz fertig sein”, soll das große Kind Walt Disney gesagt haben.
Auch Las Vegas, die sündige Variante einer Illusionswelt, ist nie ganz fertig. Der Mythos der Zockermetropole erfindet sich immer wieder neu. Mit Erfolg. 8,5 Milliarden Dollar haben die Casinos 2004 mit Glücksspiel eingenommen. Ebenso viel wird außerhalb der Spielhöllen verdient bei Shows, Shopping und in Restaurants. Seit rund 50 Jahren zelebriert die Wüstenstadt die perfekte Vermarktung menschlicher Wünsche.
Wo früher eine Hand voll Pioniere der Ödnis trotzte, leben heute 1,6 Millionen Einwohner in einer Art ewigem Wirtschaftswunderland. Die ganze Welt ist um den „Strip” versammelt: New York mit Freiheitsstatue und Brooklyn Bridge, Paris mit dem Eiffelturm, die Welt der Pharaonen im Pyramiden-Hotel Luxor, Italiens Flair im Bellagio. Im Caesar‘s Palace kann man wie die antiken Götter baden und vor dem Mirage bricht pünktlich alle vier Stunden der Vulkan aus.Las Vegas ist das Paradies der Künstlichkeit, pompös, aber demokratisch. In dieser glitzernden Kunstwelt ist der Kunde König und keine Kulturelite vermiest ihm den Konsum von Kitsch. In der Welt des schönen Scheins triumphiert das Künstliche über das natürlich Schöne.
Heute suchen wir nicht mehr nach dem verlorenen Paradies, wir inszenieren es ganz einfach und die beste aller möglichen Welten hat vielfache Konkurrenz bekommen ­ 2006 wird mit DubaiLand der größte Themenpark unseres Planeten eröffnen. Das Paradies verspricht Kronprinz Mohammed Bin Rashid Al Maktoum den Besuchern allerdings nicht. Das gigantische Projekt verheißt „more fun than you can imagine” ­ unvorstellbar viel Spaß, nicht mehr und nicht weniger.

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