Er ist ein kleiner Mann, vor allem wenn er neben dem groß gewachsenen Verleger des marebuchverlags steht. Dann beherrscht Nico Hansen mit seiner dunklen Löwenmähne die Szene und der blasse, grauhaarige John Griesemer spielt scheinbar nur die Nebenrolle. Aber das täuscht. Wenn beide aus Griesemers gerade veröffentlichten Kurzgeschichten lesen, dann ist es der Autor, der alle Blicke auf sich zieht (und aller Ohren hat). Er gestikuliert, furcht die Stirn und aus dem weit geöffneten Mund dringt eine Stimme, die auch große Säle füllen könnte. Man spürt den gelernten Schauspieler.
Zum Lesen braucht er eine Brille. Mit den runden, schwarz gerahmten
Gläsern wirkt sie seltsam wuchtig in dem schmalen, ja zarten Gesicht
mit der hohen Stirn. Alles an Griesemer ist schmal, die Statur, die
Hände, der Mund, die Nase. Der dunkle Anzug und das anthrazitfarbene
Hemd machen ihn noch schmaler, grauer. Einziger Farbfleck ist die
orange Krawatte mit dem abstrakten Muster. Und die Augen: blau wie der
Himmel nach einem Regenguss. Wenn er schmunzelt – und er schmunzelt
gerne-, dann bilden sich Grübchen in seinen Wangen und der knapp
58-jährige wirkt jungenhaft verschmitzt. Griesemer gehört zu den
Männern, die ihr Leben lang wirken wie große Jungs – auch wenn die
Haare grau und immer weniger werden.
Dass er verheiratet ist, verrät der goldene Ehering an der linken Hand.
Das Ehepaar hat einen 21-jährigen Sohn und eine 19-jährige Tochter, die
beide studieren. Derzeit ist der Sohn in Argentinien, die Tochter macht
Ferien in Indien, seine Frau ist in New Hampshire und er selbst tourt
durch Deutschland. „Wir sind wie McDonald,“ lacht er, „überall in der
Welt“. Der Mann ist einfach nett, fast zu nett. Beim „Book Lunch“ in
München kommt er kaum zum Essen. Kaum hat er sich ein paar Nudeln und
Salat auf den Teller geben lassen, halten ihm die ersten sein Buch vor
die Nase, zum Signieren. Geduldig fragt er nach Namen und malt eine
Unterschrift, die eine ganze Seite füllt. Griesemer wirkt so gar
nicht wie ein Star – und doch ist er einer. Ein Bestsellerautor.
Einer, der es geschafft hat. Mit dem Buch „Rausch“ wurde er auf einen
Schlag weltbekannt.
Der Roman erzählt in epischer Breite vom Aufbruch ins
Informationszeitalter und flicht fiktive Personen in historisches
Material ein. Chester Ludlow heißt der Held, der sein Leben der
Verlegung des ersten Überseekabels widmet. Zwei Jahre hat Griesemer
Daten und Fakten für das Buch recherchiert. Er war Schauspieler ohne
Engagment, als er zu schreiben begann. 700 Seiten dick wurde das Werk
schließlich – Griesemer hatte lange nichts zu spielen. Schon vorher
hatte er einen Roman veröffentlicht, der sich mit den düsteren Seiten
von Kriegen befasst und die Tragödie der vergessenen Kriegskrüppel aus
dem Korea-Konflikt in eine Liebesgeschichte einbindet. „Niemand denkt
an Grönland“ erschien in Deutschland, nachdem „Rausch“ sensationell
die Spitze der Bestsellerlisten erklommen hatte. Als „Guy X“ wurde
der Stoff in England verfilmt.
Für die Kurzgeschichten, die Griesemer zwischendurch verfasst hat,
hatte der amerikanische Verleger erst mal kein Interesse. Dass Nico
Hansen vom marebuchverlag gleich zugriff, erfreut den Autor umso mehr.
Diese klassischen Short Stories spielen nicht in der Vergangenheit wie
die Romane, sie schildern das amerikanische Vorstadtleben, harmlose
Situationen, in denen Menschen sich zum Narren machen oder in denen ihr
Leben eine neue Wendung nimmt. Die Personen sind keine Helden, es sind
Menschen wie du und ich. Griesemer hat die Geschichten aus dem Alltag
gegriffen und dazu musste er nicht lange suchen.
„Früher war ich auch Journalist,“ erzählt er zwischen zwei Bissen.
„Ich arbeitete in einer kleinen Zeitung in Vermont und irgendjemand
berichtete mir von einem Kerl, der ein Auto gestohlen hatte und auf der
Flucht auf einem Dach landete. Die Polizei überredete ihn schließlich
herunterzukommen. Aber die Geschichte blieb mir im Gedächtnis. Was wäre
wenn…“ „Roy auf dem Dach“ macht einfach da weiter, wo die wahre
Geschichte aufhört.
Auch zu den anderen Kurzgeschichten ließ sich Griesemer von eigenen
Erfahrungen inspirieren. Und der in Westfield, New Jersey, geborene
Autor hat einiges erlebt. Verlief doch seine Karriere eher kurvenreich
als geradlinig. Nach Studium und Militär arbeitete er als freier
Journalist, als Pfleger in einem Hospital für Geisteskranke und als
Matrose auf einem Lachsfischerboot. Dabei war eigentlich Schreiben
schon immer seine Leidenschaft. „Aber ich habe es lange Zeit vermieden
zu schreiben,“ sagt er und seine blauen Augen blicken nachdenklich,
„ich hatte Angst zu scheitern.“ Als Zeitungsreporter musste er dann
jeden Tag schreiben und damit war der Damm gebrochen. Auch als er
schließlich Schauspieler wurde – aus purem Zufall, weil er eine
Geschichte über ein Theater recherchierte – schrieb er weiter. „In
Amerika haben Schauspieler oft lange Zeit kein Engagement,“ erklärt er
und stellt endgültig den Teller ab, „Ich nützte die Zeit zum
Schreiben.“ Dass er jemals Bestsellerautor werden würde, hätte er sich
nicht träumen lassen. „Hätten Sie mir vor fünf Jahren erzählt, dass ich
heute hier in München aus meinem dritten ins Deutsche übersetzten Buch
lesen würde, ich hätte es als Märchen abgetan,“ lacht er.
Positive Überraschungen sind das Salz in der Suppe und für Griesemer
gab’s davon einige. Seine beiden Romane fanden interessierte Verleger
und sie fanden begeisterte Leser. Dabei hatte der Amerikaner nie den
Ehrgeiz, große Literatur zu schreiben, versichert er. Eine gute
Geschichte, ja, das schon. Spannend sollte sie sein, unterhaltsam,
vielleicht auch unheimlich. Nach zwei erfolgreichen Romanen ist er zum
Erfolg verdammt. Natürlich schreibt er schon wieder – an seinem
dritten Roman. Sein amerikanischer Verleger wartet schon darauf. Wovon
er handelt? Griesemer zuckt die Schultern. „Ich bin noch dran und will
nicht zu viel darüber sprechen, “ sagt er und verrät dann doch, dass
sich der Roman mit Schauspielerei und Theater beschäftigen wird. Einen
Helden im klassischen Sinn werde es nicht geben, der Hauptakteur sei
ein „ziemlich komplizierter Charakter“. Typisch Schauspieler, möchte
man meinen.
Ob er noch schauspielert? Griesemer schaut irgendwie betroffen und
beeilt sich dann zu versichern, dass er natürlich gerne auf der Bühne
stehe oder vor der Kamera. Im letzten Herbst erst habe er unter der
Regie seiner Frau an einer kleinen Bühne in New Hampshire gespielt.
„Das hätte ein Desaster werden können,“ grinst er, „war aber genau das
Gegenteil“. Dann hat er in dem Film eines Freundes eine Rolle
übernommen. Es gibt also immer wieder zu tun für den Schauspieler John
Griesemer.
Könnte er sich vorstellen, in einer möglichen Verfilmung von „Rausch“
eine Rolle zu übernehmen? Der Schriftsteller überlegt nicht lange, der
Vorschlag scheint ihm zu gefallen. Aber wen? Da zuckt er zusammen und
überlegt angestrengt: „Das ist hart. Mir liegt der Zeichner Jack
Trace. Aber dafür bin ich nicht gebaut.“ Griesemer lächelt verlegen und
strafft die Schultern. So richtig athletisch sieht das nicht aus.
Vielleicht sollte er es besser mit Joachim Lindt versuchen, dem Mann
von Chester Ludlows Geliebter Katarina, erfindungsreicher Ingenieur
und quirliger Theaterleiter? Da strahlt er. „Klar, Lindt wäre was für
mich. Der Mann ist kreativ und noch dazu ein Läufer. Ich sehe schon,
Sie sollten den Film machen.“