Als er 1984 zum ersten Mal zum Spielleiter gewählt wurde – mit neun zu acht Stimmen -, war der gelernte Bildhauer Christian Stückl mit 25 Jahren der jüngste Spielleiter aller Zeiten. Ein junger Wilder auf der konservativen Bühne des bayerischen Passionsspielortes Oberammergau. Einer, der für Aufregung sorgte, polarisierte. So stark, dass er 1990 beinahe abgewählt worden wäre. Doch jetzt, 17 Jahre später, sitzt Stückl fester im Sattel denn je. Der passionierte Theatermann hat sich durchgesetzt. Oberammergau hat erkannt, was es an dem Mann hat, der mittlerweile erfolgreicher Intendant am Münchner Volkstheater ist.
Und Stückl selbst weiß, wie wichtig Oberammergau für ihn selbst ist. Seit seiner Jugendzeit hat sich der Gastwirtssohn mit der Figur des Jesus von Nazareth auseinandergesetzt und immer wieder hat sich seine Sichtweise verändert. „Mit 25 habe ich Jesus nur als Revoluzzer gesehen“, sagt Stückl selbstkritisch. „Aber inzwischen bin ich auch älter geworden und bewundere vor allem die Konsequenz, mit der dieser Mann durchs Leben ging.“
Ja, der Spielleiter ist älter, die Haare sind kürzer geworden. Das immer noch jungenhafte Gesicht versteckt sich hinter einem Dreitagebart, die braunen Augen funkeln unternehmungslustig. Stückl trägt schwarz und braun und steckt zwischendurch ganz lässig die Hände in die Hosentaschen. Tut er das nicht, gestikuliert er heftig. Man spürt die Leidenschaft in jedem Wort, jeder Geste. Die Lunte brennt schon, obwohl es noch gut zwei Jahre hin ist bis zu den Passionsspielen 2010.
Schon jetzt laufe er „mit einem Casting-Blick“ durch seinen Heimatort, verrät der Spielleiter. Und wieder einmal hat er sich gegen alle Widerstände durchgesetzt: 2010 wird das Spiel erstmals in der 370-jährigen Geschichte in „die Nacht hineinwandern“. Das gibt Stückl Gelegenheit, das Licht dramaturgisch einzusetzen. „Es ist ja auch ein Nachtstück“, ist er überzeugt.
Der 46-jährige Oberammergauer will sich nicht mit dem Erfolg von gestern zufrieden geben. Alle zehn Jahre dasselbe Spiel zu spielen kann er sich nicht vorstellen. „Inzwischen bin ich zehn Jahre älter und sehe vieles anders. Wir werden also neu an die Sache herangehen.“ Das gelte für das ganze Team: Für Bühnenbildner Stefan Hageneier ebenso wie für den musikalischen Leiter Markus Zwink oder Otto Huber, den stellvertretenden Spielleiter, wie Stückl Oberammergauer Eigengewächse – getreu der Grundidee „Wir schaffen die Passionsspiele aus uns heraus“.
Antisemitismus, wie er Jahrhunderte lang im Spiel verbreitet wurde, hat unter Stückls Regie keine Chance. Schließlich, davon ist er überzeugt, war Jesus Jude „und ist als überzeugter Jude am Kreuz gestorben“. Diese Tatsache will der Spielleiter noch besser herausarbeiten, die Figuren neben Jesus sollen individueller gestaltet werden, „keine Abziehbilder“ mehr sein und die Massenszenen sollen noch spektakulärer inszeniert werden. Schon jetzt hält er nach Sprach- und Gesangslehrern Ausschau.
Denn Stückl ist auch Perfektionist. Und als solcher steht er in Oberammergau vor einer großen Herausforderung. „Ich als Spielleiter kann nicht sagen, ich brauche so und so viele Menschen auf der Bühne. Jeder Oberammergauer, jede Oberammergauerin hat ein Spielrecht.“ Auch wenn es 2500 Spielfreudige sind, müsse er sie unterbringen, womöglich neue Szenen schaffen. Und doch ist das auch das Schöne am Spiel, „wenn das halbe Dorf auf der Bühne steht – vom Kleinkind bis zum Greis.“ Eine ganz neue Art von Kommunikation ermöglichten die Spiele über Generationen und soziale Schichten hinweg. Und die, die einmal dabei waren, wollten immer wieder auf der Bühne stehen. Erst neulich, erzählt Stückl, und lacht sein ansteckendes Lachen, habe ihn der alte Max Schilcher, angesprochen und gesagt, „I glaub’, i schaff’s no und du musst mi nächstes Mal wieder einplanen, Christian.“ 2010 wäre der alte Mann 100 Jahre alt und damit wohl der älteste Mitspieler in der Geschichte der Passionsspiele. Soviel Leidenschaft für das Spiel macht Stückl glücklich. Er mag es, „wenn das ganze Dorf vibriert“.
Vorerst vibriert er stellvertretend für alle. Nervös zündet er sich eine Zigarette nach der anderen an. Er hat mehr Lampenfieber, wenn es darum geht, Fragen zu beantworten als wenn er Regie führt. Die Bühne ist schließlich sein Leben, seit seiner Kindheit. „Schon als 18-jähriger wollte ich Spielleiter werden“, erinnert er sich. Aber den Kaiphas wollte er eigentlich auch spielen wie der Vater und der Großvater. „Der Kaiphas ist so eine Art Erbhof in unserer Familie“, grinst Stückl. „Unsere Familie war immer auf der Seite der Hohen Priester. Auf die Apostelseite haben wir’s nie geschafft.“ Als Zwanzigjähriger baute er eine Laienspielgruppe im Ort auf und begann gleichzeitig eine Holzbildhauerlehre, „weil alle Spielleiter vor mir Bildhauer waren“. Aber „die Einsamkeit des Ateliers“ hat das Kommunikationstalent dann doch nicht ertragen; 1987 begann Stückl seine Theaterlaufbahn als Regieassistent bei Dieter Dorn an den Münchner Kammerspielen.
Und jetzt also wieder Oberammergau – zum dritten Mal. Diesmal wird der Spielleiter das Vorschlagsrecht für die Hauptrollen haben und der Gemeinderat nur mehr ein Vetorecht. Ob sich das Passionsspieldorf wohl auf Überraschungen gefasst machen kann wie schon einmal, als er gegen alle Widerstände eine verheiratete Frau als Maria durchsetzte? „Die bösartigsten Briefe kamen von Frauen“, wundert sich Stückl und zitiert ein besonders übles Schreiben aus dem Gedächtnis, in dem sich eine Anonyma über die „unreine Maria“ erregte, „unglaublich, was da für ein Hass war“. Noch will er sich aber nicht in die Karten schauen lassen. „Mit den Jesusdarstellern lasse ich mir Zeit“, wiegelt er ab und verweist auf die Vorstellung im April 2009.
Im November 2009 beginnen dann die Proben und Christian Stückl wird die Zigarette wohl nicht mehr aus der Hand legen – es sei denn, er wird zum Nichtraucher.