Mit dem Wasserflugzeug ist es nur ein Katzensprung von der quirligen Metropole ins Naturparadies Vancouver Island. Und doch hat man das Gefühl, in einer anderen Welt angekommen zu sein: Keine verspiegelten Hochhäuser, keine Shopping-Malls, keine Kreuzfahrtschiffe, keine Autobahnen, keine Luxushotels. Dafür: uralte Bäume, lange Strände, spiegelglatte Seen und Pensionen, die mit „Bed & Bears“ locken. Und natürlich Menschen, die in diese Landschaft passen.
Zum Beispiel Oyster Jim aus Colorado. Der Mann mit dem grauen Zauselbart und den Lachfalten um die Augen, knorrig wie einer der Bäume, die er so liebt, begleitet uns auf dem Wild Pacific Trail. Auf dem Weg entlang der Küste, den er nach langem Ringen durchgesetzt hat, kennt der 64-Jährige, der 1979 nach Ucluelet kam, jeden Baum. Vor allem der zähe Lebenswillen der Roten Zeder hat es ihm angetan. Dass auch entwurzelte Bäume einfach weiter wachsen, wenn ein Zweig den Boden berührt, erfüllt den alten Haudegen, der früher sein Geld mit Austernzucht (daher der Name Oyster Jim) verdient hat, mit unendlicher Bewunderung. Auch dass hier noch Bäume stehen, die 500 Jahre und älter sind. Sorgsam hat er deshalb auch den aussichtsreichen Weg geplant. Nur, wenn unbedingt nötig opfert Jim einen Baum der schönen Aussicht.
Auf und ab führt der Weg, vorbei an bemoosten Bäumen, unter kahlen Ästen hindurch und über verschlungenes Wurzelwerk. Büsche und ganze Felsbrocken, erzählt Jim, habe man entfernen müssen, um den Weg zu ermöglichen und noch immer sei es ein Kampf gegen die wild wuchernde Natur, den Trail zu erhalten. Die hölzernen Brücken über kleine Rinnsale und Vertiefungen hat der Wegeplaner selbst entwickelt. Er entscheidet auch, wo der Weg verläuft und wo eine Ruhebank am besten steht. „Wenn etwas nicht in Ordnung ist, bin ich dafür verantwortlich“, sagt er und es klingt ganz und gar nicht so als würde er sich darüber ärgern. Der Mann strotzt nur so vor Energie. Das hat er mit der Roten Zeder gemeinsam. Vor seinem Haus in Ucluelet hat Jim aus gebogenen Hölzern Herzen, Spinnen und andere Skulpturen aufgestellt und dahinter mit Netzen, Rutschen und einem Trampolin eine Art Fitness-Parcours installiert – für Büro-geschädigte Manager. Die tun ihm nämlich besonders leid, weil sie den Zugang zur Natur verloren haben.
Für Gisele Martin wäre dieser Verlust das Allerschlimmste. Die dunkelhaarige 35-Jährige, die so zauberhaft lächeln kann wie die Film-Amélie aus Paris, stammt aus einer First-Nations-Familie und erzählt Besuchern im Kwisitis Visitor Centre im Pacific Rim National Park Reservat aus einer Geschichte, die in Kanada lange Zeit verdrängt wurde. Gisele kann sich noch gut erinnern, wie es war, als sie vor Jahren im Besucherzentrum anfing. „Damals hatte ich das Gefühl, ein aussterbendes Volk zu repräsentieren“, sagt sie. „Aber wir sind noch immer hier.“ Gisele entstammt einer Familie aus Walfängern, die allerdings schon 1909 die Jagd auf Wale beendete. Die alten Traditionen aber behielten sie bei. Ihr Vater, erzählt die junge Frau, habe gerade sein 62. Kanu vollendet. Auch Totempfähle, diese Enzyklopädien aus Holz, habe er geschnitzt, den letzten zum Jahrestag der Versöhnung mit Kanada.
2008 war es, als sich der kanadische Ministerpräsident Stephen Harper im Namen der Regierung und aller Kanadier für ein Verbrechen entschuldigte, unter dem die Familien der 1,3 Millionen Ureinwohner bis heute leiden – der zwangsweisen Assimilierung. 150 000 Kinder wurden ab 1874 ihren Eltern weggenommen, in Internate und Erziehungsanstalten gesteckt, wo sie Diskriminierung und oft auch Missbrauch erleben mussten. Die letzte dieser Schulen wurde erst 1996 geschlossen. „Das dunkle Kapitel unserer Geschichte“ nennt Gisele diese staatlich erzwungene Entfremdung von der eigenen Kultur. Ziel, so hatte es Phil Fontaine, Vorsitzender der „Assembly of First Nations“ an jenem Tag der Versöhnung gesagt, sei nicht die Erziehung der Kinder gewesen, sondern, „den Indianer in jedem Kind zu töten und die indianische Kultur aus dem Gewebe der kanadischen Gesellschaft auszulöschen“.
Bei den Sprachen ist es beinahe gelungen, sie sind vom Aussterben bedroht. Bis 1986 durften die Ureinwohner nicht sprechen wie ihre Ahnen. Gisele aber will die alte Sprache wieder zum Leben erwecken, auch wenn sie nur noch von vier Personen aus ihrer Sippe gesprochen wird. „Diese Sprache hat die Welt für mich verändert“, sagt sie, sie habe ihr eine andere Art zu leben gezeigt, eine andere Welt, in der die Natur nicht ausgebeutet wird. „Wir haben zum Beispiel kein Wort für wilderness; das nächstliegende ist Heim.“ Weil es nicht viele Menschen gäbe, mit denen sie sich in der alten Sprache unterhalten könne, „rede ich mit mir selbst“, bekennt die bildschöne Kanadierin. Dass die wenigsten ihr Interesse teilen, stimmt sie traurig. „Mir ist es wichtig, unser Land zu erhalten, unsere Traditionen, unsere Art zu leben.“ Manchmal stößt sie mit ihrer Mission bei den Besuchern auf mehr Verständnis als bei ihren eigenen Leuten. Und doch: Gisele Martin glaubt an eine bessere Zukunft. Zwei Mal sei es ihr schon gelungen, in der alten Sprache zu träumen, erklärt sie – ein gutes Omen.
Thyson Cross hat zwar keine indianischen Wurzeln und wirkt auf den ersten Blick wie der Gegenentwurf zur zarten Gisele. Doch der blonde Riese aus Ontario teilt ihr Gespür für die Natur. Profi-Hockeyspieler war er in seinem früheren Leben, erzählt Thyson. „Aber ist wollte nicht mein Leben damit verplempern, Spiele zu spielen.“ Also engagierte er sich als Sozialarbeiter, „etwas, das ich immer noch mache, jetzt eben in der Natur“. Und die begeistert den 35-Jährigen so sehr, dass er beim Anblick eines bärtigen Baumriesen ins Schwärmen gerät – darüber, wie alles zusammenhängt, die Bäume und die Bären, die Adler und die Lachse, die Wölfe und die Raben. „Willkommen auf Fantasy Island“, sagt er, als wir am Ufer von Meares Island aus dem Zodiac klettern. Dann führt er uns über einen Pfad aus Holzplanken hinein in eine Wunderwelt, in der wir auf Zwergengröße schrumpfen.
Selbst Thyson, dieser Bär von einem Mann, wirkt geradezu winzig angesichts der gigantischen Wurzeln der Bäume, die sich turmhoch über uns aufrichten. Ihre verschlungenen Zweige filtern das Licht, das in braunen Gewässern goldene Tupfer setzt. Smaraggrüne Farne und grasgrünes Stinkkraut wachsen am Rand, graugrüne Flechten hängen von den Baumriesen wie gewaltige Bärte, knorrige Äste wirken wie bizarre Skulpturen. Thyson weist auf einen besonders großen Baum, auf dem üppig Sukkulenten wachsen wie sonst nur im Treibhaus. „Hängende Gärten“ nennt er dieses Kunstwerk der Natur. Wir schauen und staunen und sind ganz still angesichts von so viel Schönheit. Über uns schwingt sich ein Adler in die Luft und sein heißerer Schrei bringt uns in die Realität zurück.
Wenigstens einen Bären wollen wir noch sehen, auch wenn es inzwischen empfindlich kühl geworden ist. Dick vermummt in roten Schutzanzügen mit gelben Seglerjacken darüber, mit schwarzen Mützen und ebensolchen Handschuhen gleichen wir einer Gruppe von Playmobilmännchen. Allerdings sind wir lange nicht so beweglich, was sich gleich bei der ersten Bärensichtung bemerkbar macht. Wir taumeln von einer Seite auf die andere, stolpern über die Nachbarin oder den Nachbarn und fummeln unbeholfen an unseren Kameras. Die Bärin am Ufer ficht das nicht an. Gelassen beobachtet sie ihre zwei Jungen, die über den Strand tollen wie übermütige Kindergarten-Kinder. Doch als dann noch ein Boot auftaucht, wird es Mutter Bär zu bunt und sie verschwindet mit dem munteren Nachwuchs im Gebüsch. Doch bevor wir den Verlust beklagen können, hat Thyson schon einen neuen Bären ausgemacht, einen wahren Showbären. Völlig unbeeindruckt von unserer Gegenwart knabbert er genüsslich an einem Zweig, den er gerade von dem Ast abgebrochen hat, der ins Wasser reicht. Dann klettert er vorsichtig hinunter ans Wasser, um zu trinken. Der Kerl hat die Ruhe weg und wir fotografieren um die Wette. „Bärenstark“, murmelt mein Nachbar zufrieden, während er einen besonders gelungenen Schnappschuss betrachtet. Und Thyson? Schaut ihm über die Schulter und grinst breit: Er hat geliefert.