Abrissbirne im Kopf: Samantha Harveys „Tage der Verwilderung“

Dies ist keine Wohlfühllektüre, eher eine zum Fürchten. Denn der Protagonist in Samantha Harveys „Tage der Verwilderung“, Jake Jameson, ein Architekt, leidet an Alzheimer. Was er über die Jahre seiner Berufstätigkeit  den Gebäuden angetan hat, als „sich Abrissbirnen über Jahrhunderte der Geschichte hinwegsetzten und sie gegen Beton austauschten“, passiert jetzt mit ihm selbst. Sein Gedächtnis wird ausgeschaltet, eine graue Masse überlagert Erinnerungsvermögen und Realitätsverständnis.

Samantha Harvey begleitet Jake durch seine Tage der Verwilderung, lässt
die Leser unmittelbar teilhaben an seiner Verwirrung, wenn sich
Vergangenheit und Gegenwart überlappen. Der Mann der großen Pläne
mutiert zum Erbsenzähler, der Architekt eines Gefängnisses fühlt sich
selbst als Gefangener einer Krankheit, der er nicht entkommen kann. Die
Außenwelt der trostlosen Moore spiegelt die immer öder werdende
Innenwelt des Kranken. Jake taumelt durch seine eigene Geschichte, weiß
nicht mehr, was wahr ist und was er sich einbildet.
Harvey erzählt im Hintergrund der Alzheimer-Erkrankung Jakes schwierige
Kindheit und das Holocaust-Trauma seiner Mutter Sara, sie erzählt von
der Ehe zwischen dem Zweifler Jake und der in ihrem katholischen Glauben
ruhenden Helen, von der Geburt des Sohnes Henry, der als Erwachsener in
dem von seinem Vater gebauten Gefängnis landet und von der lange
ersehnten Tochter Alice, die dem alten Mann wie ein Phantom erscheint,
schön und nie zu fassen. Sie streift Helens unsinnigen Tod und die
seltsamen Liebesbriefe eines Unbekannten, die diesen Tod zu ignorieren
scheinen.
„Die Zeit rast, sie stürzt sich kopfüber in Schlussfolgerungen, dann
bleibt sie stehen.“ So empfindet das Jake, solange er noch denken und
die Dinge benennen kann. Doch auch diese Fähigkeit kommt ihm immer mehr
abhanden ebenso wie die, die Menschen seiner näheren Umgebung zu
identifizieren. Am Ende treibt er in einem Meer des Unbekannten,
hilflos, verloren in einem Wust von Eindrücken, die er nicht zuordnen
kann. Ein Kind, das an der Hand genommen werden muss – und sei es vom
eigenen Sohn.
Die gerade mal 35-jährige Autorin hat für ihr überaus gelungenes Debüt
ein ebenso aktuelles wie schwieriges Thema aufgegriffen, das sie
souverän gemeistert hat. Auch dank einer Sprache, die einen fast
hypnotischen Sog erzeugt. Tröstlich in all der Ausweglosigkeit: Trotz
der fortschreitenden Krankheit nimmt Harvey ihren „Helden“ ernst, gibt
ihn nie der Lächerlichkeit preist und lässt ihm bis zum Schluss seine
Würde. Ein wichtiges Buch!
Info: Samantha Harvey, Tage der Verwilderung, DVA, 352 S., 21,95 Euro

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