Auch wenn der Schriftsteller im Buch schreibt, dass Romane nie nur autobiographisch sind, hat man als Irving-Leser bei der Lektüre dieses Buches das Gefühl, mit „Letzte Nacht in Twisted River“ den Schlüssel für alle Romane des großen amerikanischen Autors in der Hand zu haben. Und man wartet fast darauf, dass auch Irving zu seinem ursprünglichen Namen John Wallace Blunt zurückkehrt. Aber: Ein Roman ist eben keine Autobiographie, auch wenn er vom Leben des Autors und dessen Erfahrungen inspiriert ist.
Natürlich trägt Danny Angel deutlich auch die Züge seines Schöpfers und
er teilt auch dessen Verdruss über die ewig gleichen Fragen der
Journalistenmeute. Aber natürlich hat Irving auch diesem Protagonisten
einen anderen Hintergrund verpasst als er ihn hatte.
Danny Baciagalupa wächst bei seinem verwitweten Vater, einem hinkenden
Koch, in dem Holzfällercamp Twisted River auf. Von den groben
Mitschülern gehänselt, sucht er Wärme bei der dicken Tellerwäscherin
Indianer-Jane und bei dem rauen Holzfäller Ketchum, mit dem seinen Vater
eine merkwürdige Freundschaft verbindet. Als der junge Angel Pope unter
die Holzstämme gerät und ertrinkt, wertet Ketchum das als schlechtes
Omen. Bald darauf erschlägt Danny Jane, weil er sie mit einem Bären
verwechselt hat. Vater und Sohn fliehen aus Twisted River, denn Jane war
die Lebensgefährtin des Dorfpolizisten, eines schmierigen Machos, der
den Koch noch nie leiden konnte.
Eine lange Odyssee beginnt, die Danny und seinem Vater immer neue
Erfahrungen und neue Frauen bescheren wird. Der Junge wird erwachsen und
zum Schriftsteller. Wie der Koch wird er noch jung zum allein
erziehenden Vater. Während er noch um seine Beziehung mit der sexuell
freizügigen Kathie ringt, erfährt er, wie seine Mutter wirklich ums
Leben kam und was sie und den Freund der Familie, Ketchum, verband. Und
wie Danny früher wächst sein Sohn Joe mit wechselnden „Müttern“ auf.
Als
Schriftsteller versucht Danny, sich das Trauma seiner Kindheit von der
Seele zu schreiben. Irving lässt durchblicken, wie der Autor Realität
und Fiktion verquickt, wie er aus realen Personen Romanfiguren
modelliert, wie er den Alltag mit ausschweifender Fantasie überhöht. Er
lässt den Leser teilhaben am Kampf des Schriftstellers um jedes Wort,
jeden Satz. Und erst, wenn der erste Satz perfekt ist, bekommt der Roman
seinen Sinn. Danny arbeitet an diesem ersten Satz fast sein Leben lang.
Denn dieses Buch ist das Buch seines Lebens. Am Ende kann er ihn nur
finden, weil er endlich auch die Frau gefunden hat, nach der er lange 40
Jahre vergeblich gesucht hat. So hängt alles zusammen, der Anfang mit
dem Ende, der letzte Satz mit dem ersten: „Er hatte so viel verloren,
was ihm lieb gewesen war, doch Danny wusste, dass Geschichten Wunder
waren – sie ließen sich einfach nicht aufhalten. Er hatte das Gefühl,
dass das große Abenteuer seines Lebens erst begann – so musste sich sein
Vater gefühlt haben, in den Nöten und Qualen seiner letzten Nacht in
Twisted River.“
Der Roman beginnt noch vorher, mit einem perfekten ersten Satz. „Letzt Nacht in Twisted River“ ist wie andere Irving-Romane auch ein Buch im
Buch. Der Autor hat alles gut verpackt und ausgeschmückt mit irrwitzigen
Szenen und blutigen Details. Da fällt eine nackte Frau buchstäblich vom
Himmel, ein Hund kämpft mit einem Bären, eine Hand wird abgehackt, ein
Mann erschossen. Irving erschafft aus sich selbst und seinen
Erinnerungen eine bizarre, lebenspralle Welt mit unvergesslichen
Charakteren – der ewig grantelnde und politisierende Holzfäller Ketchum
ist eine der besten – und er rechnet ab mit 60 Jahren amerikanischer
Geschichte, in der das Land aufs Neue die alten Fehler macht. Dabei legt
John Irving – wie sein Alter Ego Danny Angel – Wert darauf, kein politischer
Autor zu sein: „Was war an den anderen fünf Büchern politisch?
Zerrüttete Familien, belastende sexuelle Erlebnisse, diverse Verluste
der Unschuld, alle mit Reue und Trauer verbunden. Diese Geschichten
handelten ausnahmslos von kleinen, häuslichen Tragödien, – keine einzige
verurteilte die Gesellschaft insgesamt oder eine spezifische Regierung.
In Danny Angels Romanen war der Bösewicht – falls es einen gab –
häufiger die menschliche Natur als die Vereinigten Staaten.“
Diese Aussage gilt auch für Irvings neues Buch. Der Bösewicht ist der
rabiate Dorfpolizist. Und doch ist auch er ein Produkt der
amerikanischen Gesellschaft, die gleichzeitig feige Hunde wie ihn und
starke Männer wie Ketchum, Flittchen wie Kathie und warmherzige Frauen
wie Carmella produziert. Und wie lautet nun der erste Satz, der Danny so
lange zu schaffen machte: „Der junge Kanadier – er war höchstens
fünfzehn – hatte zu lange gewartet.“ Wer da nicht weiter liest, ist
selber schuld.
Info: John Irving, Letzte Nacht in Twisted River, Diogenes, 730 S.,
26,90 Euro – erscheint im Mai
14Mai. 2010