Willkommen im Jahr 2065 steht auf dem Transparent an der Ringstraße in Kathmandu. Nein, dies ist keine Reise in die Zukunft, Nepal ist uns nur 56 Jahre voraus – kalendermäßig. Auch sonst kann man auf der Ringstraße sehen, wohin die Reise geht: Vorerst in einen gewaltigen Stau. Busse, Autos, Dreiräder, Fahrräder, Kühe, Fußgänger und die allgegenwärtigen Mopeds und Roller haben sich schier unentwirrbar ineinander verkeilt. Auf einem Lastwagen schwenken jungen Maoisten siegestrunken ihre Fähnchen. An der Kreuzung fuchtelt ein Polizist hilflos mit den Armen, um dem ständigen Spurwechseln Einhalt zu gebieten. Auch die paar Maoisten mit den breiten roten Bändern über der Brust können wenig ausrichten. Das Chaos ist perfekt.
Dabei steht Kathmandu nach den Wahlen an der Schwelle zu einer neuen Zeit, das zumindest verkündete der Maoisten-Chef Prachanda. Der Überraschungswahlsieger versprach eine demokratische Republik, Friedenssicherung und schnelles Wirtschaftswachstum. Seine Anhänger jubeln noch immer. Aley Lama, der im Old Quarter von Kathmandu Schmuck verkauft, hat die Maoisten gewählt, weil er sich in einem Nepal ohne König eine bessere Zukunft erhofft. Denn Gyanendra, da ist sich der junge Mann sicher, mag niemand. „He is a killer“, sagt er abschätzig und spielt damit auf das Blutbad an, bei dem 2001 König Birendra und seine Familie ums Leben kamen. Kronprinz Dipendra, der die Morde begangen haben soll, erlag kurz darauf seinen Verletzungen und Onkel Gyanendra bestieg den Thron.
Jetzt soll also auch er weichen. Noch weigert sich der König und die etablierten Nepali unterstützen ihn. „Die Maoisten können unsere Zukunft nur sichern, wenn sie mit allen anderen Kräften zusammen arbeiten“, ist Barat Basnet, Hotelbesitzer und Umweltaktivist, überzeugt. Eher skeptisch reagiert Ambica Shresta, Hotelbesitzerin, Honorarkonsulin von Spanien und Präsidentin des Rotary Clubs, auf das unerwartete Wahlergebnis. „Jetzt müssen die Maoisten zeigen, was sie können“, erklärt die resolute ältere Dame. „Bisher haben sie nur Versprechen gemacht. Mal sehen, welche sie auch halten.“
Zur Feuertaufe wird in diesen unruhigen Zeiten der Fackellauf durch Nepal zwischen 1. und 10. Mai. Vorsorglich hat die nepalesische Regierung schon angekündigt, die olympische Flamme „notfalls mit Schusswaffen zu verteidigen“. Demonstrierende Tibeter werden schon jetzt festgesetzt. Etwa 20 000 Exiltibeter leben im Land, wo sie in ihren Klöstern ihre Kultur weiter ungestört pflegen können. Rund um die weithin sichtbaren Stupas von Bodhnath und Svayambhunath sind tibetische Mönche unterwegs und in Bodhnath trägt ein junger Tibeter stolz ein „Free Tibet“-T-Shirt zur Schau. Eine Ausnahme. Die meisten Tibeter wollen ihren Status im Land nicht gefährden. Und Nepal will es sich nicht mit China verscherzen genauso wenig wie mit dem anderen großen Nachbarn, Indien.
Eingezwängt zwischen den beiden menschenreichsten Staaten der Erde versucht das kleine Noch-Hindu-Königreich einen eigenen Weg in die Zukunft – und da spielt der Tourismus eine wichtige Rolle.
Es muss nicht immer Trekking sein oder gar der Sturm aufs Dach der Welt. Auch Nepals Kultur ist faszinierend. Pashupatinath zum Beispiel, der heiligste Platz der nepalesischen Hindus in Kathmandu. Hier, am „heiligen Fluss Bagmati“ brennen die Toten Tag und Nacht. Ein Schauspiel, das für die Menschen in Kathmandu alltäglich ist. Während die Toten zeremoniell geschmückt und mit Tüchern bedeckt, dann wieder entkleidet und schließlich angezündet werden, geht das Leben weiter: Kinder spielen im verdreckten Fluss, Männer fischen verkohltes Brennholz aus dem Wasser, Lepra-Kranke betteln auf der Treppe, Sadhus (heilige Männer) meditieren vor den kleinen Tempeln. Und während das Feuer die Toten verzehrt, beten Frauen zur Fruchtbarkeitsgöttin um neues Leben.
In Kathmandu ist alles nah beieinander, das Leben und der Tod, die Schönheit und die Hässlichkeit, Armut und Reichtum.
Abfall türmt sich am Straßenrand, klapperdürre Kühe stöbern zwischen Plastiktüten und anderem Zivilisationsmüll nach Nahrung. „Nicht nur die Berge müssen gesäubert werden“, sagt Umweltaktivist Basnet, auch die Hauptstadt hätte eine Säuberungsaktion nötig. Nur eine saubere Umwelt, davon ist der schlanke Mann mit dem markanten schwarzen Schnurrbart überzeugt, sichert dem Land auf Dauer den lebensnotwendigen Tourismus. Doch Basnet ist ein Visionär. Noch ist Nepal weit von jeder Art von Umweltschutz entfernt.
Schwarze Wolken quellen aus dem Auspuff der Lastwagen, die Luft ist geschwängert von Abgasen und über der Stadt hängt schwer eine Smogglocke, hinter der die höchsten Berge der Welt verschwinden. Nur morgens nach einer Regennacht, wenn die Luft noch klar ist und Kathmandu aussieht wie frisch gewaschen, kann man die weißen Giganten am Horizont ahnen. Dann thronen sie auf den Wolken, entrückt wie aus einer anderen Welt.
Barat Basnet hat dafür gesorgt, dass zumindest die dreirädrigen Kleinbusse mit Strom fahren. Doch im Old Quarter der alten Königsstadt braust der Verkehr, die Abgase fressen sich in die Fassaden der Tempel und Paläste. Fußgänger leben hier ebenso gefährlich wie die fliegenden Händler, die von der Kette bis zum Gurkha-Dolch alles aus ihren Taschen zaubern. Nur, als zur Feier des Neujahrstages die Kumari, die lebende Göttin, zum Königspalast getragen wird, hält das Brausen für einen Moment inne. Die Menschen drängen sich um die goldene Sänfte, in der ein aufwändig geschmücktes kleines Mädchen seine Göttinnenrolle spielt. Bis zur ersten Blutung darf das zur Kumari erhobene Mädchen im Palast bleiben, danach kehrt es zurück in den Schoß der Familie, mit einer Abfindung – aber kaum vorbereitet auf das Alltagsleben.
Da hat es die fast gleichaltrige Eliza besser getroffen. Zusammen mit ihrem kleinen Bruder geht das Mädchen aus den Bergen in Kathmandu auf eine private Schule. Privatleute machen es möglich, dass Kinder wie sie in der Gillette High School das Internat besuchen können. Eliza will einmal das Abitur machen und studieren, damit sie ihre Familie unterstützen kann. Mit ihren 17 Jahren denkt Tyoti vor allem an die eigene Zukunft. „Viel Geld verdienen“, will sie einmal, sagt das Mädchen mit dem tiefschwarzen Zopf, „und reisen. Vor allem nach Deutschland.“ Schließlich habe sie deutschen Sponsoren ihre Schulbildung zu verdanken. Tyoti lacht fröhlich und klettert fürs Foto auf eines der Stockbetten im Mädchenschlafsaal. Erst in den großen Ferien wird sie wieder nach Hause gehen. Dann wird sie einen Tag mit dem Bus unterwegs sein und weitere zwei Tage zu Fuß.
Nepal ist zwar gerade mal doppelt so groß wie Österreich, dafür sind seine Berge doppelt so hoch wie die höchsten Gipfel Europas. Und dazwischen geht es auf und ab, über Berge und Täler. Terrassenfelder ziehen sich die Hänge hoch bis über 2500/3000 Meter. Und eine Passhöhe von 2200 Metern ist geradezu lächerlich in einem Land, das über siebeneinhalb Achttausender verfügt – einen der Gipfel teilt sich Nepal mit China. Seit den 60iger Jahren ist Sagarmatha (Stirn des Himmels), bei uns besser bekannt als Mount Everest, nepalesisch. Die Einwilligung Chinas erkaufte sich Nepal mit der Zusicherung, den kämpfenden Tibetern, die über die Grenze nach Nepal kamen, keinen Unterschlupf mehr zu gewähren.
Wenn die Olympische Flamme von Tibet aus über nepalesisches Gebiet auf den Everest getragen wird, wollen die Nepalesen zeigen, dass sie ihre Versprechen halten.