Siena kennt jeder. Aber auch das Hinterland kann sich sehen lassen. Typisch toskanische Häuser machen den Aussteiger-Traum auf Zeit wahr. Eine Entdeckungsreise abseits der Touristenströme in der ländlichen Toskana.
Von Lilo Solcher
Ja, dies ist die Toskana wie aus dem Bildband: die Toskana der sanften Hügel und der von Zypressen umstandenen Gutshöfe, die Toskana der Türme und der Häuser aus roh behauenen Steinen, die Toskana des Weins und der Würste, der Klöster und Kirchen. Nebel liegt wie ein Schleier über dem Tal und verwischt die Konturen. Die Landschaft wirkt wie eine alte Fotografie in Sepia. Malerisch, denke ich und schon sehe ich einen Mann, der gerade seine Staffelei auspackt und den schönsten Blick auf die Türme von Stigliano sucht.
Ein Engländer ist es, was sonst. Hier in der ländlichen Umgebung von Siena trifft man die Inselbewohner zuhauf. Für ihr hoch bewertetes Pfund können sie sich selbst in der teuren Toskana Landsitze leisten, eine Wohnung in einem umgebauten Schloss oder mindestens ein Time-Sharing-Appartement. Der Kellner im schön renovierten Restaurant „Anticcho Maniero” in Sovicille spricht englisch und der Wirt in der rustikalen Pizzeria Celine in Orgia, der Hotelier im Hotel Moderno in Siena und der Weinhändler in Montalcino. Wenn uns auf den abgelegensten Schotterstraßen ein Mensch entgegenkommt, ist es mit Sicherheit ein Engländer und die Radlergruppe, die sich durch den Regenvorhang des Sommergewitters quält, ist Nässe erprobt, weil von der Insel. Diese englische Invasion ist eine Art friedliche Eroberung.
Ach ja, natürlich träumen auch wir wie schon zu Zeiten der „Toskana-Fraktion” vom Haus in der Toskana, Zypressen umstanden auf einem Hügel. Aber wir wissen, dass es bei den derzeitigen Preisen wohl ein Traum bleiben muss. Und wozu sich verschulden, wenn es Leute gibt, die solche Träume auf Zeit wahrmachen. Katharina und Pierre Luigi Pagna etwa, die im fast schon aufgegebenen Stigliano ein altes Ensemble sorgfältig renoviert haben mit allem Komfort, mit Kunst an den Wänden und gemütlichen Salons. Jetzt ist wieder Leben in den alten Mauern. Und während nebenan ein imposanter Palastähnlicher Bau vor sich hinrottet, haben den Weiler gegenüber eine Schar von Engländern okkupiert. Auch im feinen Restaurant von Stigliano finden sie ihre Speisekarte in englisch.
Am Pool sonnen sich im Abendlicht zwei Australierinnen. Sie sind in Florenz gelandet und mit dem Leihwagen gekommen. „Fantastic” ist dieser abgelegene Weiler für sie, ein Juwel. Natürlich waren sie in Siena, der Stadt des Palio. Auch in San Gimignano mit seinen Geschlechtertürmen. In Montalcino, der Heimat des Brunello. Aber lieber haben sie die nächste Umgebung von Stigliano erkundet, sozusagen Toskana pur, abseits der Touristenmassen. Anmutige Dörfer, auf deren menschenleeren Strassen Hunde dösen. Kirchen, deren Türen der Messner aufschließen muss.
Im Nachbarort Torri beispielsweise ist die Kirche in Privatbesitz und nur montags und freitags zwischen neun und zwölf Uhr öffnen sich die Türen zu dem bezaubernden Kreuzgang mit den schwarz-weißen Marmorsäulen, von deren Kapitelen seltsame Geschöpfe auf die Besucher blicken. Wir sind allein in dieser Oase der Stille. Welch ein Gegensatz zum überlaufenen San Gimignano, wo die Besucher nur mehr blockweise in den Dom gelassen werden und vor lauter Menschen kaum mehr Fresken sehen. Und statt in den „Prodotti-Tipici-Läden”, die sich dort mit Andenken-Shops abwechseln, kaufe ich lieber in der winzigen Metzgerei von Volte basse, wo der Patron die Wurst noch selber macht.
Nur einen Katzensprung entfernt ist auch San Galgano. Das Kloster, längst aufgegeben, ist halb verfallen, und durch die gotischen Fensterbögen der Kirche mit ihren filigranen Verstrebungen zeichnen die Sonnenstrahlen schlanke Schatten auf den Grasboden. Längst schon schützt San Galgano kein Dach mehr vor Sonne und Regen. Doch die Ruine hat sich eine geheimnisvolle Würde bewahrt, schweigend wandern die Besucher umher und steigen dann hinauf zur Eremitage auf dem nahen Hügel. Im Fels, über dem sich der Rundbau erhebt, steckt noch das Schwert, das der Legende nach der Eremit in den Stein getrieben hatte, um seinen Abschied von der Welt zu dokumentieren. Draußen formiert sich gerade eine Wallfahrt aus Wollknäueln. Die „Katzenmutter” öffnet ihre Dosen und ist schnell umringt von einer Hundertschaft maunzender Miezen.
Ähnlich viele Menschen begehren am Duomo von Siena Einlass. 100 sind es mindestens, die mit uns den Torre del Mangia erklimmen wollen. Ja, Siena sei auch außerhalb des Palio das berühmte Pferderennen rund um den Campo ein Besuchermagnet, sagt Pierre Luigi Pagno. Als Hotelier ist er nicht unglücklich darüber, wenngleich er die vielen Andenkenläden mit Argwohn betrachtet. Die Stadt soll nicht zum Museum verkommen, sondern lebenswert bleiben, meint auch seine Schweizer Frau Katharina. Sie hat sich erst daran gewöhnen müssen, dass in Siena die Contraden das Sagen haben und das nicht nur beim Palio. Sie heißen aquila (Adler), drago (Drache), leocorno (Einhorn): Die 17 Stadtbezirke prägen das Leben der Sienesen wie in alter Zeit.
„Jedes Kind hier wird zweimal getauft,” sagt Katharina. „Einmal in der Kirche und dann noch in der Contrade.” So war das auch bei ihren Söhnen, dem fünfjährigen Gregorio und dem zweijährigen Federico. Immerhin ist ihr Onkel Capitano und führte nach 41 Jahren seine Contrade zum Sieg. „So ein Sieg ist eine Frage der Ehre,” erklärt Katharina. Ein Palio könne ganze Familien entzweien, wenn sie in verschiedenen Stadtvierteln wohnen. „Um das zu verstehen, muss man in Siena geboren sein.” Doch sie weiß auch das soziale Engagement der Contraden zu schätzen, dieses enge soziale Netz, durch dessen Maschen echte Sienesen nur selten fallen.
Pierre Luigis Familie ist nicht entzweit. Der Clan ist immer dabei, beim Abendessen mit Gästen im Hotel und bei der Besichtigung des Borgo Stigliano, wo die Schwester als Architektin eine Symbiose zwischen Tradition und Moderne verwirklichte. Der Hotelier, der lange Jahre Präsident der Sieneser Hotelvereinigung war, hat keine Mühe, seine Vorstellungen auf deutsch zu erklären. Die Sprache seiner Frau hat er zusammen mit einem deutschen Freund vertieft. Der „Deutschlehrer” ist ein Augsburger. Aber weil die Deutschen sich in den letzten Jahren eher rar machten, muss Pierre Luigi inzwischen mehr englisch sprechen.