Ein Tag wie gemalt schon in München. Das lässt schon viel erwarten für Regensburg, die Weltkulturerbe-Stadt. Der Bus von Geldhauser Reisen bringt die Rundenmitglieder sicher zum Bahnhof, wo Klemens Unger uns schon erwartet. Der Kulturreferent hat es sich nicht nehmen lassen, die Runde selbst durch die Stadt zu führen. Auch dass schon in der ersten halben Stunde ein Teilnehmer abhanden kommt – und nicht mehr auftaucht -, trübt die Stimmung nicht. Zu viel gibt es zu sehen in der „größten erhaltenen mittelalterlichen Hauptstadt nördlich der Alpen“. Und während Klemens Unger aus der wechselvollen Geschichte der Stadt erzählt, klicken unablässig die Fotoapparate.
Dies ist ein Stadtrundgang wie viele Reisejournalisten ihn nur selten erleben, gespickt mit Insider-Geschichten und netten Anekdoten. Eine Führung der anderen Art zu Schätzen, die man nur selten zu sehen bekommt. Kein Wunder also, dass alle aufmerksam lauschen, um nur ja keine Information zu versäumen. Über die Regensburger Grünanlage etwa, eine der ältesten in Deutschland und sowohl unter Natur- als auch unter Denkmalschutz stehend. Karl Anselm von Thurn und Taxis arrangierte 1776 diese grüne Spange und spendierte 2000 Bäume. (Nah)Erholung für das Volk von der drückenden Enge der Stadt.
Und gleich daneben der Park der wohl bekanntesten Familie in Regensburg, der Thurn und Taxis, fein säuberlich durch einen Zaun getrennt vom gemeinen Volk. Zwar öffne Fürstin Gloria die Tore nur zu ganz besonderen Anlässen für die Öffentlichkeit, erklärt Unger, aber ganz Regensburg profitiere von der grünen Lunge, die die Fürstin schließlich erhalten müsse.
Glanz und Gloria der Thurn und Taxis in Regensburg begannen mit dem immerwährenden Reichstag, auf dem Fürst Alexander Ferdinand 1748 als Stellvertreter des Kaisers auftrat. Drei Generationen versahen bis zum Ende des heiligen römischen Reiches deutscher Nation 1806 das kostspielige Amt, ohne wirklich in Regensburg heimisch zu sein – die Reichstagsgesandten durften keinen Grund und Boden besitzen. Doch Regensburg wusste, was es dem Fürstenhaus schuldig war und baute der Familie „goldene Brücken“. Quasi als Entschädigung für das Postmonopol erhielten die Thurn und Taxis das leer stehende Stift Sankt Emmeram, heute Hauptresidenz des Fürstenhauses und „nur ein wenig größer als der Buckingham Palast“, so Unger.
Eher klitzeklein wirkt dagegen der Kiosk in Form eines Fliegenpilzes. In den fünfziger Jahren gab es solche Kioske zuhauf in den deutschen Städten, heute ist der Fliegenpilz von Regensburg einer der wenigen noch erhaltenen Zeitzeugen – dank des Denkmalschutzes. „So geht man eben in Regensburg von einer Merkwürdigkeit zur nächsten“, schmunzelt Unger und erzählt gleich noch von der zweiten Zufahrt zu Glorias Park – für Lokomotiven. Die beiden Schwestern Helene (Nene) von Thurn und Taxis und Sisi, die Kaiserin, hatten für die direkte Bahnverbindung gesorgt.
Auch König Ludwig I. engagierte sich in Regensburg und dachte sogar öffentlich darüber nach, seine Residenz in die Stadt zu verlegen (um die Münchner zu ärgern). Der Bayernkönig hat nicht nur dafür gesorgt, dass der Regensburger Dom im gotischen Stil vollendet wurde, er hat auch die touristische Bedeutung der Stadt erkannt und gefördert. Im 19. Jahrhundert, so Unger, verlief die große Tourismusachse von Regensburg bis ans Schwarze Meer und um die Jahrhundertwende verfügte die Stadt schon über vier Grandhotels. Mit der neuen ICE-Verbindung Frankfurt-Regensburg-Wien, die 2008 geplant ist, soll Regensburg wieder zu einem touristischen Zentrum werden, hofft der Touristiker. Schon jetzt strömen die Touristen bis von China in die Donaustadt. 700 000 Übernachtungen verzeichnet Regensburg jährlich. In fünf bis sieben Jahren könnten es eine Million sein, rechnet sich der Kulturreferent aus, dank des offenen Ostens.
Im Gewirr der alten Gassen mit den merkwürdigen Namen droht einmal mehr ein Rundenteilnehmer verloren zu gehen. Doch dank ständigen Abzählens wird er wieder eingefangen und erfährt dann auch, dass in Regensburg die Straßen nach den Wirtshäusern benannt wurden: „Zur schönen Gelegenheit“ etwa oder „Roter Hahn“. Rund um die Neupfarrkirche haben sich Marktstände aufgebaut. Doch das Trüppchen der Runde gelüstet es nicht nach frischem Obst, sondern nach Neuigkeiten aus dem Regensburger Untergrund. Zum document Neupfarrplatz geht es in die Tiefe und Klemens Unger kann es sich nicht verkneifen, auf die „derzeit größte Grabungsexpedition in Europa am Niedermünster zu verweisen, bei der „phänomenale Schätze“ ans Tageslicht kämen. Schließlich sei Regensburg nicht nur Römerstadt, sondern schon im sechsten Jahrhundert auch Hauptstadt Bayerns und später Sitz des Immerwährenden Reichstags.
Auch unter dem Neupfarrplatz lebt Geschichte auf – mit ihren Schattenseiten. Ab dem zehnten Jahrhundert beherbergte Regensburg eine der größten jüdischen Gemeinden, die gotische Synagoge von Regensburg wurde zum Vorbild für die Wiener Synagoge. Das harmonische Miteinander fand 1519 ein abruptes und blutiges Ende. Regensburg hatte den Anschluss an den Massenguthandel verpasst und lag wirtschaftlich darnieder. Wie so oft wurden die Juden zu Sündenböcken, sie wurden vertrieben, ihr Viertel zerstört. Beim Abbruch der Synagoge geschah dann ein „Wunder“: einer der Bauarbeiter stürzte vom Gerüst und blieb wie tot liegen. Stunden später kehrte er ins Leben zurück und die Wallfahrt „Zur guten Maria“ war geboren. Eine Holzkirche entstand, später eine Steinkirche. Mit der lukrativen Wallfahrt blühte auch die Stadt auf. Doch die Wallfahrt verschwand so schnell wie sie entstanden war, das Geld ging aus, die Kirche blieb ein Rumpf und wurde später die erste protestantische Pfarrkirche Bayerns. Im Dritten Reich wurde dann der Neupfarrplatz komplett mit einem Ringbunker ausgestattet. Document Neupfarrplatz verweist auf all diese Facetten und im romanischen Keller eines jüdischen Kaufmanns kann man auf einem Flachbildschirm noch tiefer blicken. Droben, wo die Sonne scheint, spielen Kinder auf dem marmorweisen Denkmal von Dani Karavan, das den Grundriss der alten Synagoge nachvollzieht.
Hinter der Ecke Residenzstraße taucht dann wie aus dem Nichts die monumentale Fassade des gotischen Doms auf, laut Unger „eine der prächtigsten Schaufassaden“. Alles sollte noch prächtiger werden. Weil Regensburgs 60 Hausburgen sich nach italienischem Vorbild mit jeweils einem Turm geschmückt hatten, sollte der Domturm sie alle himmelhoch überragen. Statt des geplanten 180 Meter hohen Turms hat der Dom heute zwei Türme, je 105 Meter hoch. Ludwig I. ließ sie bauen nach dem Vorbild des Ulmer Münsters. 300 Jahre dauerte es, bis der Regensburger Dom vollendet war. Unger verweist auf die „geniale Naivität“ der gotischen Baumeister: „Für den Dom gibt es keine statische Berechnung. Er hält aus Gewohnheit.“ Nicht einmal die sieben tonnenschweren Domglocken können seine Standfestigkeit erschüttern. Im Inneren dann der größte mittelalterliche Glaszyklus Europas, eine Bilderwand nach außen, durch die mystisches Licht nach innen fiel. Eigentlich, weiß Unger, hätten das Domkapitel „Licht in die düstere Halle bringen wollen“. Glücklicherweise fehlte dazu das Geld. 1940 ließ der Domprediger Johann Maier vorsorglich die wertvollen Fenster ausbauen und einlagern. Die einfachen Glasfenster, die sie ersetzten, gingen zu Bruch, als die Nazis einen Bogen der Steinernen Brücke sprengten, um die Alliierten am Einmarsch in die Stadt zu hindern. Wieder war es der mutige Domprediger, der das Glas zusammenkehrte und „der Freiheit eine Gasse“ sowie die kampflose Übergabe der Stadt forderte. Maier zahlte seinen Mut mit dem Leben, doch Regensburg blieb verschont. Die Stadt kapitulierte, ehe sie von den Amerikanern „die schon in ihren voll getankten Bombern saßen, platt gemacht wurde“. Unger („eigentlich bin ich von Beruf Regensburger“) ist stolz darauf, dass nach dem Krieg die Altstadt „gegen den Zeitgeist“ saniert wurde, statt alte Gebäude für moderne Zweckbauten abzureißen.
Im malerischen Bischofshof ist das Ergebnis dieser Stadtpolitik zu bewundern. Schon 1908 wurde der Bischofshof für den Katholikentag in ein Hotel samt Gasthaus umgewandelt. Seit acht Jahren isst man hier fein und bodenständig. Die Runde tafelt genüsslich unter den Augen des „falschen Propheten“, eines doppeldeutigen Denkmals, ehe Stadtführer Matthias Freitag ins Reichstagsmuseum lud. Freitag, der auch eine Stadtgeschichte Regensburgs geschrieben hat, erläuterte von außen die Baugeschichte des Rathauses, 1245 von der freien Reichsstadt begonnen.
Innen ließ er dann bei einem Rundgang durch die Säle die Geschichte des immerwährenden Reichstags aufleben, der wegen seiner langwierigen Entscheidungsfindungen wohl zu Recht als „Quasselbude“ verspottet wurde. 150 Jahre lang tagten die Abgeordneten (sieben Vertreter der Kurfürsten, 100 Repräsentanten der Fürsten und 50 Städtevertreter) in Regensburg. Die runden Tische waren mit grünem Tuch bespannt und die Fürsten saßen auf langen Bänken. Daher, meint Freitag, könnten die Sprichwörter „am grünen Tisch entscheiden“ und „auf die lange Bank schieben“ kommen. Und auf die lange Bank schoben die Abgeordneten so manche Entscheidung. Bis zu 20 Jahre konnte es dauern, bis man zu Potte kam. „Das müssen goldene Zeiten gewesen sein“, meint Freitag – für Regensburg, das mit den Abgeordneten gut Geld verdienen konnte. Auch wenn nicht alle so waren wie der berüchtigte englische Gesandte Sir George Etheridge, den wir – wieder auferstanden – im Weinkeller treffen. Der sagenhafte Sir skizzierte sich seinem Auftraggeber gegenüber als toller Hecht, einmal soll er des Morgens sturzbetrunken mit zwei nackten Maiden am Arm den Regensburger Kirchgängern entgegen getorkelt sein. Die Runde lauscht verzückt den Eskapaden des munteren Mimen, der den angelsächsischen Saufbruder gibt.
Nichts zu lachen hatten im Gegensatz zu ihm all jene, die in der „peinlichen Fragstatt“ verhört wurden. Bis vor 250 Jahren wurden hier Geständnisse durch Folter erlangt. In der „einzigen original erhaltenen Fragstatt Deutschlands“ machen die Folterinstrumente schaudern.
Nur allzu gern folgt die Runde ihrem Führer aus diesen düsteren Räumen wieder ins Sonnenlicht und zum neuen Hotel Goliath. Auf der Dachterrasse steht schon der Prosecco kalt und beim Blick auf die Dachlandschaft von Regensburg glaubt man Klemens Unger gern, dass die Stadt ein Touristenmagnet ist. Dazu, dass 4500 Gästebetten gefüllt werden, tragen nicht nur Kulturdenkmäler bei, sondern auch die lebhafte Kneipenszene und traditionelle Lokalitäten wie die Wurstküche, wo an einem Wochenende 30 000 Bratwürste verzehrt werden. Aber auch Hoteliers wie Stephanie Birnthaler, die mit viel Liebe und Geschmack das neue Hotel im Zentrum eingerichtet hat. Die Runde labt sich noch bei Kaffee und Kuchen, ehe sie sich zerstreut, damit jede und jeder sich noch seine eigene Prise Regensburg holen kann.
Dass sich die Abfahrt nach München dann um eine halbe Stunde verzögert, liegt wohl auch daran, dass der Abschied von Regensburg schwer fällt. Bis alle eingetrudelt sind und der letzte am Bahnhof eingefangen ist, erinnert sich so mancher an die zehn kleinen Negerlein, die nach und nach verschwinden. Am Ende fehlte dann aber doch nur ein kleines Negerlein.