„Wenn Sie Indien in einer Stunde kennen lernen wollen, dann kommen Sie nach Kalkutta.“ Der 71-jährige Santimoy Bhattacharya ist stolz auf seine Stadt, die Stadt der Freude, wie Kalkutta auch genannt wird. Trotz der allgegenwärtigen Armut. Denn Kalkutta, neuerdings Kolkata, die 14-Millionen-Metropole am Ganges, ist auf dem Sprung in die Zukunft. Neue Industrien siedeln sich an, die IT-Branche hat die Stadt entdeckt und die Lufthansa fliegt Kalkutta seit neuestem als sechstes Ziel in Indien an. Indiens Wirtschaft wächst jährlich um 8,5 Prozent und die Hauptstadt Westbengalens will ein Stück vom Kuchen abbekommen.
Santimoy sprudelt Zahlen herunter, die schwindlig machen: 3000 Dialekte
werden hier gesprochen, 48 Zeitungen gelesen, 12 000 Schulen
unterhalten. Es gibt 2000 Hindu-Tempel und immer noch 55 Kirchen. 17
000 Handgezogene Rikschas warten auf Kunden, vier Millionen Menschen
kommen täglich zur Arbeit und 2000 Tonnen Blumen werden Tag für Tag auf
dem Blumenmarkt verkauft. Der Schriftsteller Amitav Ghosh wurde in
Kalkutta geboren und Stahlmagnat Lakshmi Narayan Mittal, der
drittreichste Mann der Welt. Von den sechs indischen Nobelpreisträgern
kommen fünf aus dieser Stadt, darunter der Dichter Rabindranath Tagore
und die 1997 verstorbene Mutter Teresa, die hier wie eine Heilige
verehrt wird. Kalkutta also, der Moloch.
Was als erstes auffällt, ist das viele Grün, sind die Parks und Gärten.
Vor allem der Maidan Park, die grüne Lunge der Stadt und eine der
größten städtischen Parkanlagen der Welt. Hier findet im Januar der
Kolkata Book Fair, die größte Buchmesse des Landes statt. Hier erholen
sich die Menschen, treiben Sport oder versammeln sich zu einer der fast
schon alltäglichen Demonstrationen, die den Verkehr im immer noch viel
zu kleinen Straßennetz der Stadt kollabieren lassen. „Sie bekommen Geld
dafür oder im Winter Decken“, erklärt Santimoy etwas herablassend die
verblüffende Vorliebe von Hunderttausenden für Protestzüge auf der
Straße. „Heute demonstrieren sie für die Linke, morgen für die Rechte.
Meist wissen sie gar nicht, wofür.“ Demonstrieren als eine
Freizeitbeschäftigung der Armen, die auf Lastwägen oder in überfüllten
Bussen kostenlos in die Stadt gekarrt werden. Bei solchen Kundgebungen
ist der Maidan Park schwarz von Menschen. Was hätte wohl Lord Robin
Clive dazu gesagt, jener britische Offizier, der 1758 Waldgebiete rund
um das Fort William roden ließ, um freie Schusslinie für seine
Geschütze zu haben? Das waren die Ursprünge dieser gigantischen
Parkanlage.
Es grünt auch rund um das marmorweiße Victoria Memorial, das Taj Mahal
von Kalkutta, das dem britischen Empire und der populären Königin ein
kolossales Denkmal setzt 138 Jahre lang war Kalkutta die Hauptstadt
der Kolonie British Indien und diese Zeit hat das Bild der Stadt
geprägt. St. Paul’s Cathedral in viktorianischer Neugotik, St. John’s
Church mit dem ältesten Friedhof der Stadt und das schneeweiße
Government House hinter dem abweisenden schmiedeeisernen Zaun, in
dessen prachtvollen Räumen heute ein Enkel Gandhis als Gouverneur für
Westbengalen residiert. Dazu der ganze Heritage Bezirk, der mit seinen
Fassaden aus der Kolonialzeit das architektonische Erbe bewahrt. Neben
den von Schlaglöchern übersäten Straßen brutzelt Gemüse in Garküchen,
Straßenbarbiere rasieren ihre Kunden und Schuhputzer warten auf besser
Zeiten. An den bröckelnden Fassaden mahnen Plakate „Eine saubere Stadt
hat saubere Mauern“, davor türmen sich Berge von Müll. Rücksichtslos
bahnen sich Autos ihren Weg durch die Menge. „Die indische
Fahrerlaubnis ist auch eine Lizenz zum Töten“, warnt Santimoy. Hier
wird das Überqueren der Straße zu einer Mutprobe. Altersschwache Trams
rattern im Schneckentempo über wacklige Schienen, über die neuen
Schnellbahnen wälzt sich eine nie enden wollende Autoschlange und
darunter leben ganz Familien mitten im Müll.
„Sie leben davon, den Plastikmüll zu recyceln“, weiß Santimoy. „Dann
brauchen sie nicht mehr zu betteln.“ Auch für die Armen sei das Leben
in Kalkutta besser geworden, meint er – mit manchen Nachteilen für
Leute aus der Mittelschicht wie ihn. So leicht wie früher sei eine
Wasch- und Bügelfrau oder eine Köchin nicht mehr zu bekommen. „Das
Leben ändert sich“, beobachtet auch der Pressefotograf Santanu
Chakraborty (35). „Die Leute sind sensibler geworden. Man tut auch von
Regierungsseite mehr dafür, die Menschen von der Straße zu holen.“
Zumindest da, wo Touristen hinkommen.
„Die Straßen von Kalkutta sind voller Obdachloser“, sagt Schwester
Prema vom Mutter-Teresa-Haus. Die Deutsche aus dem Münsterland gehört
den Missionarinnen der Nächstenliebe seit 21 Jahren an, seit fünf
Jahren lebt sie in Kalkutta. An den Schock bei ihrer Ankunft erinnert
sie sich heute noch mit Schaudern. „Dabei wusste ich doch, was auf mich
zukommen wird.“ Die Schwester im weißen Sari mit der blauen Borte, den
Mutter Teresa in aller Welt bekannt gemacht hat, lächelt nachsichtig.
„Wissen Sie, die wirklich Armen sieht man nicht, wenn man als Tourist
unterwegs ist.“ Das Waisenhaus, das Sterbehaus, die Klinik für
Tuberkulosekranke – alle sind randvoll. „Gott sei dank bekommen wir
genug Spenden“, freut sich Schwester Prema und ihr Gesicht strahlt
eine Wärme und innere Ruhe aus, wie man sie in unserer hektischen Zeit
kaum mehr findet. Das Haus in der Lower Circular Road ist eine Oase des
Friedens. Selbst die Touristen verstummen, wenn sie das Zimmer
betreten, in dem das über und über mit Blumen bedeckte Grabmal der
„Mutter“ steht, die letzte Ruhestätte einer unermüdlichen Dienerin
Gottes und einer resoluten Menschenfreundin. Ein junges Mädchen steht vor der
Gedenkstätte. Ins Gebet vertieft, nimmt sie die Menschen nicht wahr,
die hinein- und hinausströmen und schweigend die Artikel über das Leben
Mutter Teresas lesen. Längst ist das Mutterhaus mit dem kargen Zimmer
der Ordensgründerin zu einer Wallfahrtsstätte geworden. „Mother Teresa
in“, Mutter Teresa anwesend, steht auf einem Schild neben der Tür. Die
Nonnen haben es seit dem Tod der „Mutter“ nicht mehr umgedreht. „Sie
ist ja da bei uns“, sagt Schwester Prema. „Wir arbeiten in ihrem Geist
weiter.“ Auch im Sterbehaus am Kalighat, dem Tempel der mörderischen
Kali mit der langen goldenen Zunge. Für diese letzte Zuflucht der
Hoffnungslosen hat Mutter Teresa der Göttin, die Kalkutta den Namen
gab, ein Stück von ihrem Revier abgetrotzt. „Neben dem Wallfahrtsort
für orthodoxe Hindus etablierte sich ein Wallfahrtsort für orthodoxe
Gutmenschen“, beschreibt die Schriftstellerin Else Buschheuer das
Nebeneinander.
Kalighat, das ist auch ein Zentrum der Bettler. Es stinkt nach Pisse
und Exkrementen, nach dem Blut der Opfertiere, verfaulten
Blumengirlanden, nach Abgasen und Sandelholz. Kinder halten die Hand
auf, alte zahnlose Frauen krallen sich mit knochigen Fingern in die
Arme von Touristen, Hunde streifen auf der Suche nach tierischen
Überresten durch die Gosse. Rikscha-Wallas, barfüßige, ausgemergelte
Männer, die ihre Rikschas noch mit der Hand ziehen, streiten sich um
die wenigen Kunden. 20 bis 30 Rupies kostet so ein Rikscha-Ritt durch
die engen Straßen des Viertels. Die zerschlissenen Sitzbänke sind eng,
zu eng für zwei gut genährte Europäer. Die Räder, oft geflickt, wirken
nicht sehr vertrauenswürdig. Aber die Männer sind schnell unterwegs. So
schnell als würden sie um ihr Leben rennen.
Nahe dem Ganges dann der Blumenmarkt, ein betäubendes Erlebnis, eine
Explosion der Farben. Männer flechten aus sonnengelben und orangen
Blüten Kränze, Frauen fertigen kunstvolle Gebilde aus blutroten Rosen
und schneeweißen Jasminblüten. Sie hocken in Verschlägen, die man bei
uns keinem Hund zumuten würde. Betörende Wohlgerüche und abstoßender
Gestank mischen sich zu einem verstörenden Geruchserlebnis wie es
Jean-Baptiste Grenouille, Süskinds mörderischer Parfümeur, im Paris des
18. Jahrhunderts zuteil geworden sein mag. Am Ganges verrichten Männer
ihre rituellen Waschungen, gegenüber steigt Rauch in die Luft – von einer Leichenverbrennung. Auf dem Platz vor dem Markt putzt sich ein Junge die Zähne, ein anderer
wäscht sich den Kopf in einer Blechschüssel. Eine Frau kocht das
Mittagessen auf einem Holzkohlenfeuer, eine Mutter stillt ihr Kind.
Halbnackte Männer ringen miteinander. Kein Film, Wirklichkeit im
Kalkutta des Jahres 2006. Wie sagte doch Santimoy? „In Kalkutta finden
Sie ganz Indien mit seinen Problemen und seiner Schönheit, mit seiner
Hoffnung und seinem Glauben, mit seiner Tradition und seinem Stolz.“