An diesem Tag wird Goethe nass. Es regnet in Strömen und der Mann sucht Schutz im „Wasserpavillon des geläuterten Herzens“. Der chinesische Garten im Frankfurter Bethmannpark ist ein Geschenk der Schwesterstadt Guangzhou, vormals Kanton. Und Goethe fühlt sich in seinem Element, ist doch sein Werther Bestseller in China, und im Westöstlichen Diwan reimte der alte Charmeur zusammen mit der jungen Marianne von Willemer fernöstlich.
Unser Goethe zitiert „Gingko Biloba“:
Dieses Baumes Blatt,
der von Osten
Meinem Garten anvertraut,
Gibt geheimen Sinn zu kosten
Wie’s den Wissenden erbaut.
Ist es Ein lebendig Wesen,
Das sich in sich selbst getrennt?
Sind es zwei, die sich erlesen,
Dass man sie als eines kennt.
Solche Fragen zu erwidern,
Fand ich wohl den rechten Sinn.
Fühlst du nicht in meinen Liedern,
Dass ich Eins und doppelt bin.
Aus dem Holz des Gingko-Baums, der Goethe zu seinem berühmten Gedicht
inspiriert hat, sind die Eingangssäulen des Wasserpavillons. Die
Kalligraphie in der linken Säule ermuntert den Besucher: „In der Stille
finde Kraft zu denken“. Stille, in der hektischen Bankenstadt Frankfurt
etwas Seltenes- hier im chinesischen Park finden wir sie. Und Joachim
Schadendorf, der Kunsthistoriker, der schon mal in die Rolle des
Dichterfürsten schlüpft, um das andere Frankfurt zu zeigen, weiß noch
andere Orte der Stille.
Das Museum Judengasse unter dem originellen Stadtwerke-Bau etwa. In
„Dichtung und Wahrheit“ hatte Goethe diese Gasse beschrieben, auf deren
knapp 350 Metern Länge sich 3000 Menschen drängten. „Goldene Gerste“
und „Wilde Ernte“ hießen die Häuser, von denen nur noch die Namen
blieben. Von anderen sind die Grundmauern bewahrt, vom eher großen Haus
des Isaak Oppenheimer etwa, dem kaiserlichen Hofbankier. Auch das
Stammhaus der Rothschilds „Grünes Schild“ stand in der Judengasse. 1976
fing das Getto bei einem Angriff napoleonischer Truppen Feuer, später
machten die Juden von der neuen „Wohnfreiheit“ Gebrauch und siedelten
in ganz Frankfurt.
Der alte Friedhof liegt gleich hinter den Stadtwerken. Kein Mensch
stört die Stille an diesem Ort der Trauer. Im Gras liegen die Reste von
hunderten von Grabsteinen, die von den Nazis zertrümmert worden waren.
Nur im hintersten Eck stehen noch einige, windschief und verwittert
unter den mächtigen Bäumen. Vor dem Friedhof, auf dem
Ludwig-Börne-Platz, sind 11 000 Stahlklötzchen in die Mauer eingelassen
– für jeden ermordeten Frankfurter Juden eines. Auch Anne Frank, ihre
Mutter und ihre Schwester haben ein Klötzchen. Sie stammten aus
Frankfurt. 30 000 Juden lebten 1933 in der Stadt, 140 krochen nach dem
Ende der Nazi-Tyrannei aus ihren Verstecken. Heute ist die jüdische
Gemeinde Frankfurts wieder auf 10 000 angewachsen.
Eine andere Geschichte erzählt das Karmeliterkloster, das heute
Stadtarchiv ist und vom Museum für Vor- und Frühgeschichte begrenzt
wird. Jörg Rathgeb, ein Meister aus dem 15.. Jahrhundert, schildert auf
den Windbildern im Stil der Armenbibeln die Leidensgeschichte Christi.
Einst müssen die Farben geleuchtet haben, heute sind sie verwittert und
nach den Luftangriffen im Zweiten Weltkrieg auch teilweise zerstört –
ein schwacher Abglanz früherer Pracht. Polnische Restaurateure holten
die Taufe Christi buchstäglich aus dem Nichts ans Licht. Meiste Rathgeb
malte sieben Jahre an dem Zyklus, im alter von 43 Jahren wurde er
hingerichtet und zerstückelt, weil er sich auf die Seite Ulrichs von
Württemberg geschlagen hatte.
Nach so viel blutiger Geschichte bringt der Palmengarten Entspannung.
Der Gartenarchitekt Heinrich Siesmayr konnte hier 1868 seinen Traum
verwirklichen. Heute ist der Palmengarten eine Oase der Erholung für
die Frankfurter und ihre Gäste. Der Botanische Garten mit dem
klassischen Palmenhaus und dem Tropicarium, mit Stauden-, Rhododendren-
und Rosengärten und einem See samt Wasserfall ist eingebettet in eine
weitläufige Gartenlandschaft.
Nicht weit entfernt im Grüneburg-Park ist ein weiterer Markstein der
Geschichte zu entdecken. Der imponierende Poelzig-Bau im Stil der neuen
Sachlichkeit war ursprünglich das Verwaltungsgebäude des wegen seiner
Verstrickung in den Holocaust berüchtigten Chemiekonzerns IG-Garben.
Nach Kriegsende zog das amerikanische Hauptquartier unter Dwight D.
Eisenhower in die Konzernzentrale ein. Mit dem Rückzug der Amerikaner
1995 und der Sanierung begann ein neues Kapitel. Heute residieren in
dem weitläufigen Gebäude die Geisteswissenschaften der Frankfurter
Johann-Wolfgang-Goethe Universität.
Auch wenn die Familie Goethe auf dem Gelände des Grüneburg-Parks
Obstwiesen besaß, ist nicht verbürgt, ob der Dichterfürst dem Ebbelwoi
zugesprochen hat. Unseren Goethe-Darsteller jedenfalls brachte der
Apfelwein, den er in seiner Hamburger Studenten-WG kennen und mögen
lernte, nach Frankfurt. Und Goethe lässt sich auch beim Ebbelwoi
zitieren – allerdings etwas verfremdet: „Wer hobbelt so spät durch Nach
und Gewidder, des isch der Babba, der holt noch an Lidder“. Zwei Euro
kostet ein „Sommerschoppen“ beim Obsthof am Steinberg in Nieder-Erlebenbach.
Hier, wo Frankfurt ganz ländlich ist, inmitten von Apfelbäumen, haben
Andreas und Tatjana Schneider 1999 ihre Schoppenwirtschaft aufgemacht.
Andreas, der den Betrieb 1993 von seinen Eltern übernommen hat, hat
sich ganz „dem Apfelwein verschrieben“. Auf zehn Hektar kultiviert er
100 Obstsorten, darunter 60 eher selten gewordene Apfelsorten wie
Goldparmäne, Berlepsch, Ananasrenette oder Kaiser Wilhelm. Sein Boskop
Cuvee Brut mundet auch Feinschmeckern. Volker Drokosch, Sternekoch im
Frankfurt Main Plaza, etwa serviert ihn zusammen mit Apfel-Fenchel und
gebackenen Austern. Gefährlich ist Schneiders „Turbo Stöffche“, mit
knapp zehn Prozent Alkohol die Rakete unter den Apfelweinen.
Unser Goethe greift herzhaft zu. Die biologische Brotzeit sorgt für
den nötigen Untergrund, der süffige Apfelwein für Stimmung – und dann
bringt er einen Toast aus, allerdings nicht von Goethe: „Trink Ebbelwoi
zu jeder Stund’, er macht dich froh. Du bleibst gesund.“ Was will man
mehr?