Es muss schon etwas Besonderes in und um Vancouver sein, dass es weltweit die Menschen anzieht. Die kanadische Metropole am Pazifik hat keine Sehenswürdigkeiten wie den Eiffelturm in Paris, keine alte Geschichte wie Rom, keine Architektur-Ikone wie Sydney, keine Künstler-Gemeinde wie New York. Und doch ist Vancouver eine der beliebtesten Städte der Welt. Das mag der Lage der Stadt zwischen Fjorden und Bergen geschuldet sein, dem kunterbunten Völkergemisch in den Straßen und der multikulturellen Küche, auch den umweltfreundlichen Initiativen, die Vancouver bis zum Jahr 2020 zur grünsten Stadt der Welt machen sollen. Vor allem aber liegt es an den Menschen, dass Vancouver so sympathisch rüberkommt.
An einem sonnigen Tag, wenn der Himmel so blau ist wie das Meer und die Fassaden der neuen Hochhäuser strahlen wie frisch geputzt, wenn Hunderte von Radlern die Straßen bevölkern und in den Freiluftcafés die Stühle knapp werden, ist Vancouver unwiderstehlich. An der Waterfront führen „Dog-Walker“ ihre vierbeinigen Schützlinge spazieren, ein alter Chinese übt sich selbst versunken in Tai Chi, ein Pärchen küsst sich auf einer Parkbank inmitten blühender Rhododendren, hin und wieder hebt ein Wasserflugzeug in Richtung Vancouver Island ab.
Im Fairmont Waterfront Hotel inspiziert Dana Hauser ihren „Dachgarten“ im dritten Stock des Hotels. Russischer Knoblauch gedeiht hier unter ihren strengen Augen, Rosmarin, Thymian, Melisse. 60 verschiedene Kräuter und Gemüsesorten. Alles wohl geordnet, auch die Apfelbäumchen. Dana, angetan mit Kochmütze und Schürze, erntet hier täglich, was sie für ihre Küche braucht. Ganz besonders stolz ist sie auf die Honigproduktion der 500 000 Bienen, die im Dachgarten des Fairmont Waterfront Hotels zuhause sind. 600 Pfund Honig produzieren die fleißigen Bienen, die von hier aus in alle Richtungen ausschwirren.
Grüne Ideen wie dieser Dachgarten sind in Vancouver gefragt. Die Aktion SOLEfood etwa verwandelt nicht nur städtische Brachen in Gemüse- und Obstgärten, sie verhilft auch Obdachlosen oder Drogensüchtigen zu Lohn und Brot. Unter diesem „Wohltätigkeitsschirm“ gelänge es gescheiterten Existenzen, wieder ein selbst bestimmtes Leben zu führen, berichtet Michael Ableman und schaut dabei sehr zufrieden aus. Der schmale Mann mit dem kantigen Gesicht, unter anderem auch Bauer, hat selbst einen ziemlich verschlungenen Lebensweg hinter sich und tut das Seine dazu, dass SOLEfood weiter wächst, „dramatisch“, wenn es nach ihm geht. Profitabel ist diese Großstadt-Gärtnerei schon jetzt. 30 Restaurants und sechs Bauernmärkte werden mit den Früchten der SOLEfood-Arbeit beliefert. In Kürze will Michael Ableman einen Laden aufmachen, in dem die Kunden das bezahlen, was sie sich leisten können. Ein Projekt für Gutmenschen. Von dieser Spezies scheint es in Vancouver mehr als sonstwo zu geben.
Als „Agentin in einer Mission des Guten“ fühlt sich etwa Nicole Bridger, die junge Modedesignerin, die Ökonomie und Ökologie miteinander versöhnen will. In ihrer Boutique an der 4th Avenue spricht die geschiedene Mutter eines zweijährigen Sohnes von „Mode als Plattform für ökologische Ideen“. Gelernt hat sie unter anderem bei Vivian Westwood. Mit ihrer Mode, die Frauen ermuntert, die eigene Persönlichkeit zu betonen – auch gegen den Trend, will Nicole Bridger zu positiven Veränderungen beitragen. Selbstbewusst spricht sie davon, in nächster Zukunft weltweit zu expandieren, vielleicht auch in Berlin einen Laden zu eröffnen. „Die Zeit ist reif für Kleidung aus Naturmaterialien“, sagt die fesche Mittdreißigerin, „aber sie muss schön sein“ – und möglichst fair produziert.
Konsum ja, aber mit gutem Gewissen. Darum geht es auch bei Edible Canada, einem Bistro am Markt von Granville Island. Wie ein Mantra wiederholt sich auf einer schwarzen Schiefertafel der Satz „I will eat local food“. Nur lokale und regionale Spezialitäten kommen hier auf den Tisch oder gehen über den Tresen. Die Auswahl ist ohnehin riesig, in der Markthalle fügen sich pralle Kirschen zu Pyramiden, liegen frische Lachse, hängen Lammschinken und verlocken süße Törtchen zu Sünden wider die Kalorienverbote.
Josh Bloomfield hat damit keine Probleme. Der 30-Jährige mit dem schmalen Gesicht und der sportlichen Figur hat zwar Finanzwesen studiert, führt aber lieber Gruppen von Radlern durch den Stanley-Park, das grüne Biotop Vancouvers. Der Laden, den er mit Freunden vor zwei Jahren gründete, boomt. Über 200 000 Bikes werden hier alljährlich ausgeliehen. Kein Wunder bei den vielen Touristen, die nach Vancouver kommen. Nach der Forstwirtschaft ist der Tourismus der zweitwichtigste Wirtschaftszweig für die Stadt – und mit ein Grund dafür, dass die Lufthansa im Sommer nonstop von München nach Vancouver fliegt. Josh freut’s. Dann kann er vielleicht noch mehr Räder verleihen, noch öfter Gruppen durch seinen geliebten Park führen und ihnen von den Bäumen, den Ureinwohnern und den zwei fleißigen Bibern vom Beaver Lake erzählen.
Eine „wahnsinnige“ Geschichte ist für ihn die frühe Besiedlung der Gegend durch die „First Nations“ vor über 3000 Jahren. Warum sie ausgerechnet hier siedelten kann Josh Bloomfield nachempfinden. Schließlich hatten die Menschen schon damals „alles vor der Haustür“: Lachse, Muscheln, Schellfisch, Wild, Beeren und Pilze. Vor allem aber Holz für ihre Langhäuser, die Kanus und die Totempfähle. Acht solcher Pfähle stehen im Park, von unterschiedlichen Stämmen. „Geschnitzte Geschichte“ seien sie, sagt Josh. Totempfähle erzählten, wie die Menschen früherer Zeit die Welt erlebt und interpretiert haben. Nah dran an der Natur waren sie immer, meint Josh, der Vancouvers grüne Bestrebungen in der Tradition verankert sieht.
Doch natürlich ist auch hier nicht alles grün, umweltfreundlich und „good for the planet“. Auf dem Nachtmarkt von Richmond etwa würde man vergeblich nach Kleidung aus Naturfasern suchen. Hier, wo Essstände aus ganz Asien zu finden sind und Verkaufsstände, die alles feilbieten, was niemand braucht, ist es schrill, grell und kitschig. Da gibt es farbige Linsen aus Thailand, rosarote Hello- Kitty-Handyhüllen, Socken mit Gesichtern drauf und Strumpfhosen mit Löchern drin, riesige Plüschtiere und allerlei chinesischen Plastikkram. Duck Island heißt der Rummelplatz, zu dem schon in der Dämmerung ganze Heerscharen Kauf- und Vergnügungswilliger pilgern. Auf der Bühne flötet ein einsamer Musiker vor sich hin. Es wird geschoben, gedrängelt, fotografiert, gehandelt und – vor allem – gegessen.
Auch das ist Vancouver: fröhlich, bunt, unbekümmert. So wie die riesigen lachenden Männer in der Skulptur A-maze-ing Laughter, die der Künstler Yue Min für die Biennale 2009-2011 geschaffen hatte und die dank einer privaten Schenkung nun für immer im Morton Park stehen. 14 mal 250 Bronzekilos, zweieinhalb Meter hoch und immer mit breitem Lachen im Gesicht. Eine Gute-Laune-Skulptur sei das, meint Manfred Scholermann und fotografiert schon wieder einen Touristen, der auf einen der lachenden Männer klettert. 1960 zur Hippiezeit ist der weißhaarige Mann, der nie um einen Witz verlegen ist, aus Deutschland nach Vancouver gekommen – als „flowerkraut“, wie der 73-jährige lachend erzählt. Zurück in die Heimat will der gut gelaunte Unternehmer auf keinen Fall. Auch wenn Vancouver im Regen versinkt, was man hier als „liquid sun“ (flüssige Sonne) bezeichnet, schätzt er die Leichtigkeit des Seins in der Hauptstadt von British Columbia. Sie bewahre ihn davor, zum schlecht gelaunten „sauerkraut“ zu werden, sagt Manfred – und lacht so breit als wolle er den 14 Bronze-Riesen Konkurrenz machen.