Welt am Abgrund: Amitav Goshs „Der rauchblaue Fluss“

Von Mauritius bis ins ferne Kanton spannt Amitav Gosh den Bogen seines großen historischen Romans über die Agonie eines Zeitalters, in dem der globale Handel blühte. Es ist die Zeit, in der Städte wie Singapur und Hongkong gegründet wurden, in der die Ostindische Handelsgesellschaft die Fäden zieht und britische Kaufleute den Ton angeben. Es ist aber auch die Zeit, in der englische Botaniker in China nach seltenen Pflanzen suchen, um ihre botanischen Gärten zu bestücken, die Zeit, in der die Rothschilds zu Macht und Reichtum kommen und Napoleon im Exil auf der Insel St. Helena lebt. Eine Zeit, in der weltweit Geschichte geschrieben wird.

In dieser Zeit profitiert auch der indische Parse Bahram Modie vom Opiumhandel, mit dem die Briten ihre Handelsbilanz mit China aufgewertet haben. Sein Schicksal verwebt Amitav Gosh mit der des exzentrischen indo-englischen Malers Robin Chinnery und dem der jungen Paulette, die auf einem Botaniker-Schiff unterwegs ist. Briefe Robins an Paulette, die durchaus kritisch mit den Engländern und dem Opiumhandel ins Gericht gehen, wechseln ab mit den Erfahrungen des jungen Nil, der sich bei Bahram als Schreiber verdingt und der von den dramatischen Ereignissen eher unvorbereitet getroffen wird. Auch der alte Fuchs Bahram hat sich ver- und die Chinesen unterschätzt. Sein Imperium ist längst ins Wanken geraten, seine Welt zerbröselt. 
In dem beginnenden neuen Zeitalter ist kein Platz mehr für Männer wie ihn – auch wenn der Opiumhandel nach einer kurzen Pause wieder Fahrt aufnimmt „hinter den sittsamen Fassaden der neuen Stadt“ – das alte Ausländerviertel  Fanqui-Town wurde im Opiumkrieg zerstört. „Die neue Enklave war wie ein Monument, erbaut aus den Kräften des Bösen zu Ehren ihres triumphalen Marsches durch die Geschichte“, schreibt Nil 30 Jahre später. 
Goshs Roman lässt eine Zeit lebendig werden, in der brave Kaufleute handelten wie heute die Drogenbarone und sich dabei völlig im Recht fühlten. Freihandel war das Credo jener Zeit und auf dem Altar des freien Warenverkehrs wurden ganze Völker geopfert. Der große indische Fabulierer hat mit seinem ebenso dicken wie dicht gesponnenen Roman wieder ein lesenswertes Lehrstück in Geschichte geliefert. 
Info: Amitav Gosh, Der rauchblaue Fluss, Blessing, 720 S., 24,99 Euro

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