Entschleunigung. Wer wissen will, was das Wortungetüm bedeutet, sollte in die Wachau fahren. Träge fließt die Donau in ihrem Bett zwischen schroffen Felsen und sonnigen Weinterrassen. Flussschiffe schwimmen gemächlich mit dem Strom. Am Ufer sind ganze Kolonnen von Radfahrern unterwegs und auf der Straße, die sich den Fluss entlang windet, bricht keiner den Geschwindigkeitsrekord. Im Gegenteil.
„Hier werden Autofahrer schon mal wegen Langsamfahrens bestraft“, spöttelt Karl Holzapfel. „Vor allem in der Zeit der Marillenernte.“ Jetzt also. Rund, prall und sonnengelb, manchmal rosig überhaucht, hängen die Aprikosen (in Österreich Marillen genannt) in den Bäumen oder häufen sich, sorgsam geschichtet, in den Erntekisten. Wachauer Marillen sind eine Delikatesse und sie sind empfindsam wie Diven. Auf jeden Druck reagieren sie allergisch mit unschönen braunen Flecken. Und alt werden wollen sie schon gar nicht.
Deshalb kann man die süßen Früchtchen auch nur in der Wachau essen und da nur für kurze Zeit, während der Marillenernte im Juli. Dann aber in allen Variationen. Zum Beispiel in Holzapfels Prandtauerhof, wo derzeit ein Marillenmenü auf der Speisekarte steht: Marillensüppchen, Donauhuchen mit Marillenravioli, kross gebratene Entenbrust mit Marillenbuchteln und Zuckererbsenschoten und zum guten Ende natürlich Wachauer Marillenknödeln mit Butterbröseln. Und zum Salat gibt’s Marillenkernöl. Marillen satt.
Heute gehören die Marillenbäume zum Bild der Wachau, wie es in Bildbänden gerne verbreitet wird. Das war nicht immer so, denn die Kulturlandschaft Wachau, die 2000 zum Unesco Weltkulturerbe erklärt wurde, ist erst langsam gewachsen und wurde immer wieder aufs Neue den Bedürfnissen der Menschen angepasst. Genau das hat die Unesco in ihrer Begründung auch gewürdigt: „Die Wachau ist ein herausragendes Beispiel einer von Bergen umgebenen Flusslandschaft, in der sich materielle Zeugnisse ihrer langen historischen Entwicklung in erstaunlich hohem Ausmaß erhalten haben.“
Es sind die Menschen, die auch heute noch diese Kulturlandschaft und die dazu gehörigen Kulturdenkmäler erhalten. Menschen wie Karl Holzapfel, der das barocke Juwel Prandtauerhof in Weißenkirchen wieder mit Leben erfüllt hat. Der ehemalige Weinlesehof des St. Pöltener Chorherrenstifts, 1308 erbaut, war 1696 von Jakob Prandtauer, dem Architekten des Stifts Melk, im Stil des Barock prachtvoll umgestaltet worden, vierflügelig, mit zweigeschossigem Arkadenhof und Kapelle. Heute lagern in den jahrhundertealten Kreuzgewölben die hochprozentigen Schätze des Hausherrn – Edelbrände, die alljährlich zu den besten in Österreich zählen. Dank des weichen Wassers, wie Holzapfel verrät. „Das ist so gut, das kriegen Sie sogar in der Apotheke.“ Im behaglichen Gutshof-Restaurant kommen raffiniert verfeinerte Wachauer Spezialitäten und die wunderbar fruchtigen Weine vom eigenen Weingut auf den Tisch und der Arkadenhof ist unter den Händen von Barbara Holzapfel mächtig aufgeblüht.
Die Holzapfels stehen nicht allein in ihrem Bemühen, die Schönheit der Wachau zu erhalten und trotzdem Geld zu verdienen. Seit 30 Jahren schon sind die Orte zusammengerückt, setzen sich die Menschen zum Wohl ihrer Region ein. Damals verhinderten sie ein Donaukraftwerk, das die reizvolle Flusslandschaft nachhaltig zerstört hätte. Seit 2001 haben sich 13 Gemeinden im „Arbeitskreis Wachau“ zusammengetan, um Projekte zu erarbeiten, die Tourismus und Umwelt in Einklang bringen. Neben dem breiten Bett der Donau ist der Platz für den Verkehr oft begrenzt. Brücken sind rar und so manche Fähre kommt nur auf Zuruf.
Diskussionen wie sie derzeit um die Dresdner Elbschlösschenbrücke geführt werden, kann sich Barbara Schwarz, seit 2004 Bürgermeisterin von Dürnstein, trotzdem nicht vorstellen. In der Wachau würde niemand den Titel Weltkulturerbe für ein Stück mehr Fahrkomfort aufs Spiel setzen, ist sich die 48-jährige Betriebswirtin sicher. Die Menschen haben sich mit den Touristenströmen abgefunden. Mit 1,3 Millionen Besuchern jährlich muss das kleine Dürnstein mit seinen 940 Einwohnern „enorme Menschenmassen“ bewältigen. Bis zu 3000 Radler sind täglich in den engen, mittelalterlichen Gassen unterwegs. „Das muss man schon mögen“, räumt die blonde Bürgermeisterin ein.
Sie mag es und versteht, was die Touristen nach Dürnstein bringt: mittelalterliche Geschichte und Geschichten. Die Ruine der Burg hoch über dem Städtchen etwa erzählt von der wohl ersten Geiselnahme der Geschichte. Leopold V. von Österreich ließ hier den englischen König Richard Löwenherz, der von einem Kreuzzug zurückkehrte, festsetzen, um Lösegeld zu fordern. Um die – kurze – Haft des Kreuzfahrers zwischen 1193 und 94 ranken sich viele Sagen. Wie die vom treuen Sänger Blondel, der seinen König aus der Gefangenschaft befreit habe. Zwei Gasthöfe erinnern in Dürnstein an das sagenhafte Männerbündnis.
Auch über das imposante Augustiner Chorherren Stift gibt es viel zu berichten. Der blaue Turm, heute Wahrzeichen von Dürnstein, bekam erst bei der Renovierung 1980 seine ursprüngliche blau-weiße Farbe zurück – gegen heftige Proteste der Dürnsteiner, die ihren alten – einfarbigen – Turm wieder haben wollten. Dabei hatte das Stift schon früher sein Gesicht verändert. So ließ der lebenslustige Probst Hieronymus Übelbacher dem ursprünglich gotischen Bau 1715 eine barocke Hülle aus Stein überstülpen. Die verschwenderische Pracht ging ins Geld. Bittbriefe an zahlungskräftige Adlige sollten die nötigen Taler in die Kasse bringen, denn nebenher baute der fromme Hirte auch für sich selbst – ein kleines Lustschloss. Übelbacher wusste um seine weltlichen Schwächen und sorgte vor: Auf dem goldglänzenden Tabernakel in Form einer Weltkugel kann man heute noch seine Bitte lesen: „Priester, der du die Messe liest, gedenke des armen Sünders Hieronymus Übelbacher“. Barocke Frömmigkeit hat sich in dem Kreuzgang, der sich hinter einer unscheinbaren Türe versteckt, ausgetobt: In einer Art Theaterkulisse ist das heilige Grab dramatisch inszeniert und die Weihnachtskrippe schmückt sich mit einer drastischen Darstellung des Kindermords von Bethlehem auf der einen und der Flucht nach Ägypten auf der anderen Seite.
Welch ein Gegensatz zu der heiteren Natur, die sich dem Auge von der Terrasse aus bietet: Der breite Strom der Donau, gesäumt von den von Menschenhand geschaffenen Weinterrassen. Ein Bild wie jene Gemälde, wie sie in den Anfangsjahren des letzten Jahrhunderts die Wachaumaler schufen. Damals, als die Gegend noch bitterarm war – und romantisch. „Die Menschen lebten von der Hand in den Mund“, weiß Dürnsteins Bürgermeisterin. „Mit dem Bahnbau kamen dann die Künstler, die diese schöne, verarmte Wachau malten, oft gegen Kost und Logis.“ Noch heute hängen in vielen Restaurants Bilder aus jener Zeit. Der romantisch verklärte Blick auf die Wachau verführte schon bald die ersten Touristen zu einer Reise an die Donau. Bis heute hat sich daran nicht viel geändert.
Und die Wachauer tun alles, damit das auch so bleibt. Sie wollen sich ihre Landschaft genau so wenig verwässern lassen wie ihren Wein. 1983 gründeten die „Wachauer Weinhauer“ die Vinea Wachau, die ihre Qualitätsweine gemäß ihrem natürlichen Alkoholgehalt in drei Kategorien einteilte: Steinfeder, den frischen Federleichten mit maximal 11%; Federspiel, den starken Trockenen (11,5 bis 12,5%) und Smaragd, den reifen Spitzenwein (ab 12,5%). Eine eigene „Charta des reinen Weins“, der Codex Wachau, wacht – vergleichbar mit dem bayerischen Reinheitsgebot für Bier – darüber, dass die Wachauer Weine ein Qualitätsprodukt bleiben. Die strenge Selbstkontrolle fußt auf sechs Säulen, die jegliche Art von Aromatisierung, Fraktionierung oder Konzentrierung untersagen. „Natur und sonst nichts“ ist die Devise, die den Wein zum vollendeten Genuss und die Weinlese zur Wissenschaft macht.
Josef Gritsch weiß, worauf er sich eingelassen hat. Der junge Winzer ist Herr über rund zehn Hektar Weinberge. In guten Jahren erwirtschaftet er vier- bis fünftausend Liter Wein pro Hektar. Und gute Jahre gab es mehrere in letzter Zeit. Seine Weißweine ob Federspiel, Steinfeder oder Smaragd, sind duftig, frisch, filigran – und sie schmecken nach Marillen. Nein, Rotweine schenkt er nicht aus. „Das ist für uns nur Hobby.“ Umso sorgfältiger wählt er die Trauben für seine Weißweine. Handverlesen müssen sie sein, um den hohen Qualitätsstandards gerecht zu werden. Die meisten Weinstöcke in seinem Weinberg über Vießling im Spitzer Graben sind noch jung. Die wenigen alten sind Überlebende der Reblaus-Epidemie von vor 100 Jahren. Dicht an dicht hängen die grünen Trauben schon jetzt im Blätterwerk. Gritsch schaut kritisch. Ein bisschen mehr Sonne könnten sie jetzt schon vertragen.
In seiner Freizeit arbeitet der blonde Hüne am Weinwanderweg, 20 Kilometer auf und ab durch Weinberge und lichte Wälder. Smaragdeidechsen huschen über die knorrigen Wurzeln, Vögel zwitschern und das Weinlaub glänzt im Sonnenlicht wie frisch poliert. Zwischendurch laden Hütten zum Verweilen ein und dazu, in die Gegend zu schauen. Hinunter auf das Biedermeier-Örtchen Spitz und das braune Band der Donau, hinüber auf den waldreichen Jauerling und den sagenhaften Tausendeimerberg. 1000 Eimer Wein, 57 Liter pro Eimer, sollen Mönche einst von den Weinbergen auf dem 800 Meter hohen Berg geholt haben und noch heute gilt der Burgberg als besonders gute Lage. All das soll man einmal auf dem Weg nachlesen können. Gritsch und seine Freunde haben noch viel vor. Sie wollen nicht nur Infotafeln aufstellen, sondern auch aus dem Holz der hier wachsenden Bäume Tische und Bänke schnitzen und die Tradition der alten Trockenmauern wieder beleben. Harte Arbeit.
Harte Arbeit war auch der Umbau der trutzigen Burg Oberranna zu einem gemütlichen Schlosshotel. Und eine Geduldsprobe dazu. Schlossherrin Lydia Nemetz erinnert sich noch heute der schlaflosen Nächte, die sie 1981 nach dem Kauf der verwitterten Immobilie verbrachte. Die Märchenburg aus dem Mittelalter bescherte der Familie aus Baden bei Wien erst einmal Alpträume. 19 Container Schutt mussten entsorgt, baufällige Anlagen gesichert werden. Erst dann konnte Architekt Roland Nemetz die historischen Gemäuer in liebevoller Kleinarbeit umgestalten und mit Antiquitäten, Jagdtrophäen und alten Gemälden fürstliches Wohngefühl zaubern. 1984 kamen die ersten Gäste und sie konnten sich von der Wahrheit eines Spruches aus dem 17. Jahrhundert überzeugen: „In Oberranna kann man nicht streiten, das ist ein Platz des himmlischen Friedens.“
Friedlich ist es wirklich in diesen dicken Mauern. Und alles wirkt so heiter und aufgeräumt, dass ein Schlossgespenst, das aus der alten Zeit noch übrig sein könnte, schleunigst Reißaus nehmen würde. Oberranna hat gut 900 Jahre Geschichte von den Herren von Grie über die Neidegger bis zum Baron Hammerstein, der die Burg aus dem Besitz der kaiserlichen Familie erwarb. Seine Frau, die Schauspielerin Anny Dirkens, hatte allerdings nichts übrig für himmlischen Frieden. Sie stritt gern und viel, zerschlug vorzugsweise teures Familienporzellan und verscherbelte nach dem Tod ihres Mannes alles, was nicht niet- und nagelfest war – am Ende sogar den Altar der Burgkirche, die zu der Zeit Stallungen und Dienstbotenräume beherbergte. Auch Baron Laurent Deleglise, der 1930 Burgherr wurde, regte die Fantasie der Wachauer an. War er Geheimdienstmitglied? Oder Kriegsgewinnler. Jedenfalls gab er den Menschen im Spitzer Graben wieder Arbeit und begann mit umfangreichen Restaurierungsarbeiten. Dabei wurde auch die frühromanische Krypta freigelegt – die naive Darstellung der Trompeten von Jericho und anderer biblischer Geschichten auf einem der Kapitele gilt als einzigartig. Nach dem Tod des Barons lebte seine Witwe 20 Jahre völlig zurückgezogen in der Burg, wo sie Fremden den Zutritt verweigerte. Erst 1980 entschloss sie sich, die Burg zu verkaufen und nach Wien zu ziehen.
Bei Roland Nemetz war es Liebe auf den ersten Blick. Der Architekt hatte schon immer davon geträumt, einmal Burgherr zu sein. „Jetzt lebe ich seinen Traum“, sagt Lydia Nemetz. Mindestens zweimal die Woche ist die Mutter von drei Töchtern und einem Sohn im Sommer auf Oberranna anzutreffen. Dann sind die Gäste ihre Familie. Denn „wer nach Oberranna kommt, ist irgendwie anders“. Die Gäste lieben den weiten Blick aufs Land und die Marillenbäume, den blühenden Burghof und die lauschigen Ecken, in die sie sich mit einem Buch in der Hand kuscheln können. Der prächtige Rittersaal dient als Frühstückszimmer und natürlich gibt’s Marillenmarmelade.