Von Moorgeistern und alten Schlössern: Estlands natürliche Seiten

Estland? Für die meisten ist das Tallinn, die Hauptstadt, die 2011 zusammen mit dem finnischen Turku Kulturhauptstadt Europas sein wird. Doch Estland ist natürlich noch viel mehr. Da sind die prunkvollen Herrenhäuser, von adligen Deutschbalten in die Landschaft gestellt. Da sind die reizvollen Strandbäder, in denen die Zeit stehen geblieben scheint. Und da ist die Landschaft des jungen Baltenstaates, weit und menschenleer. Wie das Moor im Nationalpark Laheema.


„Land der Buchten“ ist die deutsche Übersetzung von Lahemaa, die Gegend
ruht wie hingeschmiegt am Finnischen Meerbusen und wurde 1971 zum
Nationalpark. Auf 680 Quadratkilometer stehen dunkle Fichten- neben
lichten Kiefernwälder und Wacholder bewachsenen Kalksteinplateaus. Es
gibt  Strände, Flüsse, Bäche und natürlich das Moor. Das Wasser gluckst
lüstern unter den schwankenden Holzplanken, auf denen sich die Menschen
im Gänsemarsch durch den Sumpf bewegen. Libellen sirren silbern
schimmernd über den glitzernden Wasserflächen der kleinen Seen, die aus
dem braunroten Moos schauen wie blaue Augen. Die Bäume tragen lange
Bärte oder wirken mit ihren kahlen Ästen wie gespenstische Skelette.
Schaut da ein Elch hinter dem Gehölz hervor? Tappt ein Braunbär durchs
weiß bezipfelte Wollgras? Sie müssten taub sein bei all dem Krach. Was
für ein Gekicher und Gekreisch, wenn eine daneben tritt und den
verdreckten Schuh mit einem fetten Quatschen aus dem Sumpf zieht. Oder
wenn einer ein Foto machen will und die ganze Menschen-Schlange
stillstehen muss. Nur hin und wieder laden Plattformen dazu ein, auch
mal stehen zu bleiben und sich umzuschauen. Zwischen Heidekraut und
Moltebeeren, Sumpf-Porst und Torfmoos verstecken sich keine Ungeheuer,
nur ein paar Fleisch fressende Pflanzen wie der lang blättrige
Sonnentau.
Vorne ragt ein Aussichtsturm in die Höhe, lädt dazu ein, von oben
hinunterzuschauen auf die unwirkliche Landschaft. Plötzlich  Stille.
Nur das Zwitschern der Vögel, das Glucksen des Wassers. Im Spiegel der
Seen schwimmen weiße Wolkenschafe, das Moos ist grün und erdfarben und
manchmal rot – wie verhext. Waren es Moorhexen, die diese Landschaft
hin zauberten, Waldgeister? Oder doch  Kalivipoeg, der sagenhafte
Riese, den die Jahrhunderte lang unterdrückten Esten zur Symbolfigur
erhoben.
Wahrscheinlich hätten sie auch gerne mit großen Steinen nach den
arroganten  Eindringlingen geworfen, die sie behandelten wie
Leibeigene. Dänen waren da, Schweden, Deutsche und Russen. Erst seit
der Unabhängigkeit sind die Esten wieder Herren im eigenen Land. Zu
Sowjetzeiten war auch das Gebiet des Nationalparks Sperrzone und Esten
brauchten eine Sondergenehmigung, um Laheema zu besuchen. Zäune
verbauten die Sicht auf das Westmeer, wie die Ostsee in Estland heißt.
Jetzt ist der Blick auf das Meer wieder frei und überall im blassblauen
Wasser sieht man die mannshohen Findlinge, die Kalivipoeg in die Wellen
geschleudert haben soll. Weder die Schmuggler, die im letzten
Jahrhundert Branntwein über das Westmeer nach Finnland  brachten, noch
die Kapitäne aus Käsmu ließen sich allerdings davon schrecken.
62 Kapitäne lebten in dem kleinen Dorf vor mehr als hundert Jahren, in
weißen Häusern, die ein wenig aussahen wie ihre Schiffe. Eine
Seefahrtsschule gab es und eine stolze Flotte. Heute sticht hier kaum
noch jemand in See. Dafür gibt es im Dorf der Kapitäne ein Meeresmuseum
und Sommerhäuser für Touristen. Und wenn die See ruhig ist, kann man
auf dem Findlingsfeld übers Wasser wandeln bis hinüber zur Insel
Saartneem.
Verwaltet wird der Nationalpark vom Gutshaus Palmse aus, das
Nationalpark-Büro ist in der Remise des hochherrschaftlichen Hauses
untergebracht. Im 13. Jahrhundert gründeten hier die Zisterzienser ein
Landgut, das  400 Jahre später an das deutsch-baltische Adelsgeschlecht
derer von Pahlen ging, die es zu einem Schlösschen umbauten. Nach dem
ersten Weltkrieg wurde die Familie enteignet wie die meisten der
Deutschen; heute ist das  sorgfältig restaurierte Gut Palmse mit dem
weitläufigen gepflegten Park eines der Vorzeigeobjekte Estlands.
Über 700 Jahre prägten die Deutschbalten das Land, ließen die Bauern
Fronarbeit leisten und gönnten sich in ihrem schlossähnlichen
Gutshäusern jeden erdenklichen Luxus. Ihre Stellung war so
beherrschend, dass das estnische Wort für Herr „Saks“ ist, der
Deutsche. Das Gut Sagadi im Osten des Nationalparks, 1749 erbaut, ist
heute Museum. Und die Esten kommen in Scharen, um die prunkvollen Möbel
aus vergangenen Zeiten zu sehen, die üppigen Bilder, die gold gerahmten
Spiegel. Ein bisschen Nostalgie ist dabei – und Stolz. Der Stolz
darauf, es geschafft zu haben, die Zukunft Estlands in die eigenen
Hände zu nehmen.   

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