Der alte Fuchs hatte vorgesorgt. Alle drei Teile Vietnams sollten gleich berechtigt sein und gleich viel bekommen. Nach seinem Tod, so bestimmte es Ho Tschi Minh in seinem Testament, sollte seine Asche drei geteilt werden und über dem Norden, dem Süden und der Mitte des Landes verstreut werden – zu gleichen Teilen. Daraus wurde nichts. Der Vater der vietnamesischen Einheit ruht in einem pompösen Mausoleum in Hanoi und Saigon trägt den Ehrentitel Ho Tschi Minh City. Nur die Mitte ging leer aus wie so oft. Auch der wirtschaftliche Aufschwung im neuen Tigerstaat hat die Gegend um Da Nang lange ausgespart. „In Saigon wird das große Geld verdient“, sagt Wu, unser Führer, und dass er nichts lieber täte als sofort umzuziehen, wenn seine Frau nicht wäre. Sie liebe die Landschaft im Zentrum, die Berge, das Meer, die alten Städte. All das, womit die so lange vernachlässigte Mitte in Zukunft punkten will.
Der Wolkenpass macht seinem Namen alle Ehre. Nebelfetzen verschleiern den Blick auf die von einem grünen Dschungel überwucherten Berge, Lastwagen quälen sich ächzend und qualmend durch die kühnen Kurven und auf der Passhöhe warten schon die Souvenirverkäufer auf ihre Opfer. Wu kann sich noch an die Zeit erinnern, als die Passstraße nur einspurig zu befahren war. „Vormittags in die eine, nachmittags in die andere Richtung.“ Heutzutage ein Ding der Unmöglichkeit. Vietnams Verkehr wächst im Eiltempo wie die Bevölkerung. Seit kurzem unterquert deshalb der 6,3 Kilometer lange Hai-Van-Tunnel den Pass mit den spektakulären Ausblicken auf die Bucht von Da Nang.
Die drittgrößte Stadt Vietnams, an deren Stränden 1965 die ersten amerikanischen Kampftruppen landeten, öffnet sich nach dem Willen der Regierung einer neuen – friedlichen – Invasion: dem erhofften Ansturm der Touristen. Fischer mussten dafür schon ihre Dörfer räumen, Reisfelder wurden aufgeschüttet. Inzwischen schneidet eine vierspurige Allee die eher gesichtslose, graue Stadt vom Strand ab. Rechts gibt es jetzt viel Platz für Hotels und neue Appartementkomplexe, links bröckelt alte Bausubstanz, behaupten sich Wellblechbuden zwischen frisch verputzten Wohnblöcken. Ein Wasserpark, ein Delfinhaus und Sportplätze künden vom neuen Vietnam und in den Marmorbergen soll eine Universitätsstadt entstehen, sagt Wu. Der Jugend – 50 Prozent der Vietnamesen sind unter 20 Jahre alt – sollen die Türen für eine bessere Zukunft geöffnet werden. Dafür nimmt das sozialistische Land auch die Touristen aus aller Welt in Kauf. Vietnam will ein großes Stück vom globalen Tourismuskuchen abbekommen: Bis 2010 sollen sechs Millionen Touristen jährlich das Land bereisen, doppelt so viele wie heute. Dafür wird so manche Tradition über Bord geworfen. Selbst die Toten müssen umziehen, wenn ihre Grabstätte auf einem Hotelbauplatz liegt. Bis in die Nähe von Hoi An wird der Strand herausgeputzt. Die Lebenden bekommen zwar Entschädigung, wenn sie ihre Fischerhütte räumen müssen. „Aber sie müssen anderswo eine neue Existenz aufbauen und geraten nicht selten in eine Schuldenfalle“, kritisiert Wu.
Der 48-jährige Englischlehrer weiß, dass viele seiner Landsleute mit der rasanten Entwicklung des Landes nicht mithalten können, während andere Reichtümer anhäufen. Die Eigentümer des luxuriösen Palmgarden Resort nahe Hoi An etwa sind Vietnamesen. Seit einem Jahr ist die Deutsche Anne Kuehl hier fürs Frontdesk verantwortlich. Und in dieser Zeit ist der Zustrom der Touristen so angeschwollen, dass die Hotelkapazität schon nicht mehr ausreicht. „Wir sind total ausgebucht“, stöhnt die junge Frau. „Mehr Gäste können wir gar nicht verkraften.“ Die meisten kommen aus Deutschland und Australien – und sie wollen Hoi An sehen, die kleine Stadt mit dem kolonialen französischen Flair.
Die engen Straßen der einstigen Handelsstadt am Ufer des Thu Bon wimmeln von Touristen. Zu Fuß, per Rad, Roller und Rikscha sind die Fremden in dem Unesco-Weltkulturerbe unterwegs, kein Hausgang ist vor ihrer Neugier sicher, keine Zeremonie vor der Zudringlichkeit ihrer Kameras. Hoi An ist so etwas wie das Rothenburg Vietnams. Die schönen Fassaden mit den geschnitzten Türen verstecken sich hinter Klamottenläden und Souvenirgeschäften, fast jedes Restaurant am Fluss wirbt mit einer Kochschule und auf dem wuseligen Markt wird ebenso viel fotografiert wie verkauft. Denn Hoi An ist einfach fotogen: Die alten Frauen, die nach getaner Arbeit, eine Runde Karten spielen, die eine mit Sturzhelm, die andere mit dem traditionellen Reisstrohhut. Die sorgsam zu Pyramiden gestapelten Früchte in allen Farben. Der Fischer, der sein Netz auswirft wie ein Kunstwerk. Die mit Rädern, Mopeds und Menschen angefüllten Fähren, die zwischen den beiden Stadtteilen verkehren. Die prächtigen Tempel mit den duftenden Weihrauchspiralen. Die anmutigen Frauen im traditionellen ao dai, dem hochgeschlitzten Seidenkleid über der Seidenhose. Die märchenhaft leuchtenden Lampionläden… Man könnte stundenlang hier sitzen, schauen und staunen.
Welch ein Unterschied zum anderen Weltkulturerbe in Vietnams Mitte, der alten Kaiserstadt Hue. Die Straßen sind mal wieder überschwemmt wie so oft zu Monsunzeiten. In der Zitadelle balancieren kichernde Touristinnen über Steine, die ihnen die Führer zu Füßen legen, damit die nicht nass werden. Neben dem Eingang rosten amerikanische Panzer vor sich hin. „Hanoi, Hue, Amerikaner, bumm, bumm“, sagt ein alter Rikschafahrer und grinst zahnlos. Das amerikanische Flächenbombardement hat nicht viel übrig gelassen von der „verbotenen Stadt“ mit ihren Tempeln, Gärten, Palästen und Seen. Verfallen und verrottet ist die einstige Pracht und trotz aller Bemühungen der Unesco um das Weltkulturerbe ist die vor sich hin modernde Zitadelle unter der grauen Wolkendecke ein eher trostloser Ort.
Vollständig erhalten geblieben sind dagegen die Gräber aus der Nguyen-Dynastie: Verspielte Paläste in üppigen Gartenanlagen, die von den Kaisern auch als Sommerresidenzen genutzt wurden und die heute Scharen von Touristen anziehen. Vor allem der vierte Kaiser Tu Duc (1829 bis 83), der trotz seiner 103 Frauen kinderlos blieb, nutzte den Landsitz und saß gerne sinnend im Pavillon über dem künstlichen See, erzählt Wu. 600 Gedichte hinterließ der Dichter auf dem Kaiserthron, der mangels eigener Nachkommen auch den eigenen Nachruf selbst verfassen musste – 5000 Zeichen, nachzulesen auf der mit 20 Tonnen größten Stele Vietnams. Tu Doc gilt als der letzte – unabhängige – Kaiser Vietnams, seine Nachfolger waren Marionetten der Franzosen. Die fehlende Macht kompensierte der letzte unter ihnen, Khai Dinh, mit unermesslichem Prunk. Elf Jahre schufteten 5000 Arbeiter an seinem protzigen Grabmal, dessen Vollendung der abschätzig Bamboo King genannte Marionettenkaiser selbst nicht mehr erlebte.
An den Straßen zu den Grabmalen stehen die Souvenirläden Spalier. Räucherstäbchen in allen Farben wie bunte Fächer, spitze Reisstrohhüte in allen Größen, Buddhas in allen Posen – „Madame, Sir!“ schallt es aus allen Richtungen. „Where do you come from? What’s your name?“ Wer darauf antwortet, hat schon verloren. Denn dann werden lächelnd die Schätze des Ladens ausgebreitet. Ein Angebot, das man nicht ablehnen kann, ohne unhöflich zu sein. Kein Wunder also, dass sich die Reisstrohhüte in den Bussen stapeln, die zurück in die Stadt fahren.
Schmutzig braun wälzt sich der Parfümfluss durch Hue, nur die bunten Regen-Capes der Rad- und Rollerfahrer sorgen für Farbtupfer. Jetzt um die Mittagszeit scheinen die Geschäfte im Tiefschlaf zu liegen. Die Verkäufer schlafen im Liegestuhl, auf dem Ladentisch, auf dem Boden. Auf den Straßen, wo der Schlamm noch knöchelhoch steht, dagegen wird eifrig geputzt, gespritzt, gekehrt. Die ersten Rikscha-Fahrer bieten wieder eine Tour durch die Zitadelle an. Trotz aller Zerstörung: Hues Zukunft liegt in seiner Vergangenheit.
Januar 1, 2008
Interessant die Vietnam-Berichte.
Aber warum schreiben viele westdeutschen Intellektuelle, wie auch die Autorin, Ho Tschi Minh, Ho Tschi Minh City statt Ho Chi Minh ?