Verwandte Seelen: Hansjörg Schertenleibs „Das Regenorchester“

Das Regenorchester
(Buch)
Autor: Hansjörg Schertenleib
Verlag: Aufbau-Verlag
Erschienen am: 2008-08
Seiten: 234
ISBN: 3351032374

Die erste Begegnung ist nicht viel versprechend. Die Frau in den Gummisandalen sieht aus wie siebzig, sagt: „Sie sind also der Schweizer, der seine Frau verloren hat“, und bittet den joggenden Schriftsteller ohne Umstände, ihre Tasche zu tragen. Der ist so verblüfft, dass er die Unbekannte nach hause bringt. Damit beginnt eine seltsam anrührende Liebesgeschichte. Kein müder Aufguss von Harald & Maude, sondern die Geschichte einer liebevollen Annäherung zweier verwandter und verwundeter Seelen.

Der Schweizer Hansjörg Schertenleib hat diesen kleinen, poetisch-melancholischen Roman geschrieben und sich dabei unverhohlen aus seinem eigenen Leben bedient.
In einer aufschlussreichen Passage diskutieren die beiden ungleichen Freunde über Bücher: „Was würdest du eigentlich von deinem Leben erzählen?“ fragt die Frau und der Schriftsteller antwortet: „Das frage ich mich seit fünf und zwanzig Jahren, seit ich Bücher schreibe. – Was ist wichtig, was unwichtig? Zählen nur die großen Dinge? Oder sind es die kleinen? – Beides, sage ich. – Geburt, Leben. Tod. Aus, vorbei. Höhepunkte und Tiefpunkte. Ein Leben wie ein Feuerwerk, eine Explosion nach der anderen! – Die Kleinigkeiten sind genauso wichtig, Niambh.“
Niamh heißt die 64-jährige Frau, die dem verlassenen Autor zur Freundin wird. Sie lässt ihn teilhaben an ihrer Lebensgeschichte, die auch vom Verlassenwerden handelt, macht ihn vertraut mit einem längst vergangenen Irland und führt ihm durch ihre Nähe zum Tod die wirklich wichtigen Dinge des Lebens vor Augen. Und Sean, wie sie ihren Dichter nennt, ist ein gelehriger Schüler. Er lernt, seine Umgebung mit den Augen Niamhs zu sehen, lernt, alles Leben zu respektieren, die oft übersehenen Kleinigkeiten zu achten. Ja, er lernt sogar, dem Tod ins Auge zu blicken, als er seine sterbenskranke Freundin bis zu ihrer letzten Stunde pflegt.
Sie hat ihm alles erzählt bis zum Ende. „Ich will mein Leben kennen, nicht neu erfinden“, hatte sie gesagt. Jetzt muss Sean sein Leben kennen lernen. Das wird ihm eines Tages bewusst, als während eines Gewittersturms das Regenorchester einsetzt, eine Batterie von Flaschen und Fläschchen auf einem Blechtisch, die  Niamh ihm vererbt hatte. Er tanzt zu der archaischen Musik, eine zugelaufene Katze auf dem Arm und in dem vollen Bewusstsein, lebendig zu sein – und bereit für eine neue Zukunft, eine neue Liebe. 
                             
Info: Hansjörg Schertenleib: Das Regenorchester, aufbau, 230 S., 19,95 Euro

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