„Wo ich nicht bin, da war ich, da werde ich sein“, heißt es fast schon
am Ende des Buches. Fast ein Leitfaden durch das Dickicht dieses
Geschichten-Dschungels. Die Gedanken des Erzähler, der als Dolmetscher
dabei ist, wenn Asylsuchende ihre Anträge oft mit haarsträubenden
Geschichten begründen, mäandern von der Antike über die
Bolschewiken-Kriege bis zur eigenen Liebesgeschichte. Und weil der
Dolmetscher aus den Tagebüchern einer berühmten Sängerin ein Buch machen
sollte, findet auch ihre Geschichte Platz in diesem dicken Buch. Wie
die Puppe in der Puppe.
Es sind entsetzliche Geschichten darunter, die nächtliche Alpträume
bescheren, monströse Menschen, die sich ins Gedächtnis krallen. Dann
wieder das pralle Leben, zum Weinen schön. Oder messerscharfe Gedanken:
Die Zeit als „Tischguillotine“, „wie eine Brotschneidemaschine. Jeder
Sekunde wird der Kopf abgeschnitten.“ Dabei will man sie festhalten,
will sein Glück – wenn man es denn hat – am Schopf packen. Ohne
Rücksicht auf das Elend der anderen. Denn so ist das Leben: „Jemandem
wird der Kopf abgeschlagen und in der Menge der Zuschauer vor dem
Schafott sind zwei, die verleiben sich gerade zum ersten Mal… So ist
es, und so wird es bleiben.“
Auch in diesem Roman, für den Autor und Übersetzer unlängst den
„Internationalen Literaturpreis – Haus der Kulturen der Welt 2011“
erhielten, greift eines ins andere – Liebe und Leid, Leben und Tod,
Geschichte und Gegenwart, Traum und Wirklichkeit. Mit dieser Komplexität
und den vielen Anspielungen auf literarische Vorbilder macht es
Schischkin den Lesern nicht gerade einfach. Doch es lohnt sich, in
dieses Erzähldickicht einzudringen und den verschlungenen Pfaden zu
folgen – womöglich auch mit Hilfe der 17 Seiten hilfreicher Anmerkungen
im Anhang. Hat man die ersten Hürden überwunden, entwickelt dieses
literarische Meisterwerk einen unwiderstehlichen Sog.
Info: Michael Schischkin, Venushaar, DVA, 555 S., 24,99 Euro
14Jul. 2011
Verpuppte Geschichte: Michael Schischkins „Venushaar“
as „Wort“ als Schöpfer im biblischen Sinn spielt in Michael Schischkins grandiosem Roman „Venushaar“ eine wichtige Rolle. An Mythen und Aussageprotokollen entlang wird hier ein Jahrhundert sowjetischer Geschichte erzählt. Die einzelnen Fäden durchdringen einander, überwuchern die Konstruktion wie Venushaar, „ein Kräutlein aus der Gattung der Frauenhaarfarne“, das selbst durch Marmor bricht.