Trauerarbeit: Nino Haratschwilis „Mein sanfter Zwilling“

Das ist so ein Roman, an dem man von Anfang an leidet, weil man weiß, dass es nicht gut gehen wird, niemals gut gehen kann. Für ein wohl geordnetes Leben, wie sie es mit Mann und Sohn führt, ist Stella einfach nicht geschaffen. Ihre bürgerliche Existenz ist brüchig, und als Ivo, ihr Adoptivbruder, mit dem sie ein traumatisches Familiengeheimnis verbindet und eine ebensolche Liebe, nach Jahren zurückkommt, bricht das Kartenhaus zusammen.

Stella verlässt Mann und Kind, gibt ihren sicheren Job auf, um Ivo ins
Unbekannte zu folgen und sich ihrer Vergangenheit zu stellen. Einer
Vergangenheit, die sich dem Leser in Nino Haratschwilis aufwühlendem und
todtraurigem Roman nur nach und nach enthüllt.
Stella und Ivo, sie sind wie zwei Königskinder, die nicht zueinander
kommen aber auch nicht ohne einander leben können. Warum das so ist,
warum sie den Boden unter den Füßen verliert, sobald Ivo auftaucht, das
führt Stella die Begegnung mit einer anderen Familie im fernen Georgien
vor Augen. Hier endlich erkennt sie Parallelen zu ihrem eigenen Leben
und zu dem ihrer Eltern. Und sie kann die Erinnerung an das Ereignis
zulassen, das ihr Leben und das Ivos auf den Kopf gestellt hat. Nach
diesem Exkurs in ein Land im Nachkriegszustand könnte doch noch alles
gut werden. Das tut es auch – aber nicht im eigentlichen Sinn. Zwar
bekommt Stella ihr Leben wieder auf die Reihe, aber die Liebe zu Ivo
wird sie auch weiterhin begleiten wie ein unerreichbarer Traum.
Nino Haratschwilis Buch ist ein emotionaler Schocker, es geht unter die
Haut, bohrt sich ins Gemüt. Die junge Autorin liefert schmerzhafte
Bilder für Stellas raumgreifende Traurigkeit. Vorsicht,
Ansteckungsgefahr! 

Info: Nino Haratischwili: Mein sanfter Zwilling, Frankfurter Verlagsanstalt, 380 S., 22,90 Euro 

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