Was haben der Spazierstock von Charles Dickens, die Lesebrille von Abraham Lincoln, die Tagebücher der Gebrüder Wright und das Grammophon von Emile Berliner gemeinsam? Sie alle finden sich in der Library of Congress in Washington. Denn diese Bibliothek verfügt nicht nur über 29 Millionen Bücher und ist damit die zweitgrößte der Welt, sondern auch über viele andere Schätze.
Kurt Maier kennt sie alle und er kennt ihre Geschichte. Der 75-jährige deutsche Jude aus dem Ortenaukreis führt mit viel Engagement interessierte Gruppen durch die Schätze der Library. 1941 kam er in die USA „gerade noch rechtzeitig”, er unterrichtete Deutsch in New York, bis die Sprache der Nazis „nicht mehr populär” war. Denn schulte er um. Seit 1978 ist er in der Kongressbibliothek und katalogisiert vor allem deutsche Bücher die deutsche Sammlung ist die größte der Welt. Warum er mit 78 Jahren noch arbeitet? Kurt Maier strahlt über das ganze runde Gesicht: „Mir macht das Spaß. Solange sie mich nicht rausschmeißen, arbeite ich.” Seit zehn Jahren hält er auch Vorträge an deutschen Schulen zum Thema „Growing up in Nazi Germany”. Das Aufwachsen im Faschismus hat er selbst miterlebt. Dennoch liebt Kurt Maier Deutschland und die deutsche Kultur. Die Vorträge „das sind meine Ferien”, sagt er. Und : „Ich arbeite in den Ferien mehr als in der Bibliothek.”
Wenn ihm das Katalogisieren zu langweilig wird, dann macht er eine Führung und erzählt, wie dieser Tempel der Gelehrsamkeit mitten in Washington entstand: Die Staatsbibliothek war von 1800 bis 1887 im Capitol untergebracht. Dann wurden die Sammlungen zu groß und für den Bau des neuen repräsentativn Gebäudes wurden sechseinhalb Millionen Dollar veranschlagt. Obwohl Marmor im Überfluss verbaut wurde, gab der Architekt bei der Fertigstellung des Gebäudes dem Kongress eine Viertelmillion Dollar zurück. „Wohl das erste und das letzte Mal, dass so etwas bei öffentlichen Gebäuden geschah,” glaubt Maier.
Büsten von Dante, Franklin und Goethe repräsentieren die Gelehrsamkeit in den hohen Hallen des Jefferson Buildings Herz des grandiosen Büchertempels. Im großen Lesesaal kann jedermann unter den Augen von Newton, Michaelangelo, Beethoven, Moses oder Shakespeare studieren. Insgesamt laden 19 Lesesäle in den drei Gebäuden der Library dazu ein, sich mit Gedrucktem zu beschäftigen. Es müssen nicht immer Bücher sein. „Wir haben Zeitungen aus der ganzen Welt,” sagt Kurt Maier stolz, natürlich auch aus Deutschland.
29 Millionen Bücher, zwölf Millionen Fotografien, 58 Millionen Manuskripte stapeln sich in 130 Millionen Bücherregalen und täglich kommen neue hinzu, seitdem Thomas Jefferson seine Bibliothek, damals die größte Privatbibliothek der USA an die Library verkauft hat. Ein Großteil der Bücher fiel einem Feuer zum Opfer, in einer Vitrine sind die letzten Reste zu sehen. Ankäufe sind bis heute wichtig. Für zehn Millionen Dollar kaufte die Bibliothek die Weltkarte von Martin Waldseemüller aus dem Jahr 1507, auf der erstmals Amerika eingezeichnet ist. Von den ehemals 1000 Kopien war nur eine einzige erhalten, die 350 Jahre auf Schloss Wolfegg lag und erst 1901 wiederentdeckt wurde. Prinz Johannes Waldburg-Wolfegg kam 2001 persönlich in die Library, um die Karte zu überbringen.
Ist die Waldseemüller-Karte ein Juwel unter den 4,8 Millionen Landkarten, so sind die beiden Mainzer Bibeln Prunkstücke der Büchersammlungen. Die handgeschriebene Riesenbibel ist ein Geschenk von Lessing Rosenwald an die Bibliothek. Direkt gegenüber ist die Gutenberg-Bibel ausgestellt, die von Dr. Otto Vollmehr 1930 für eineinhalb Millionen Dollar an die Library verkauft wurde. „Das Geld war sehr gut angelegt,” ist Kurt Maier überzeugt. Zwar gibt es noch heute 48 von ursprünglich 200 dieser Bibeln „eine hohe Überlebensrate”, aber nur drei vollständige Exemplare auf Pergament. In der Vitrine der Kongressbibliothek liegt eine davon.
Unter den Manuskripten gehört die Freud-Kollektion zu den wertvollsten: In hunderten von Schachteln ist archiviert, was Sigmund Freud niedergeschrieben hat, auch über schmerzstillende Mittel. Wenn man so eine Schachtel aufmacht, fühle man sich wie Lord Carnavon, als er das Grab von Tut ench Amun öffnete, sagt Kurt Maier. „Man weiß nie, was zum Vorschein kommt.” Der alte Mann erinnert sich an einen deutschen Freudforscher, der unter den Papieren auf einen geschlossenen Umschlag stieß. Als er ihn öffnete, fand er darin Kokain eines von Freuds Schmerzmitteln. Und da war auch noch der Kurator, der in der Abteilung für seltene Bücher eine Bibel von 1483 entdeckte, in der zwei Seiten mit Wachs verklebt waren. Er öffnete die Seiten und fand ein Bild von Bathseba , die ihre Füße badete, während König David ihr von einem Balkon aus zuwinkte. Die erotische Darstellung fiel wohl der kirchlichen Zensur zum Opfer, argwöhnt Maier.
Die Library of Congress ist immer wieder für Überraschungen gut, glaubt der Bibliothekar aus Leidenschaft. Er könnte noch viele Geschichten erzählen, zu viele für einen einzigen Rundgang. Deshalb gibt es auf der Internetseite der Bibliothek www.loc.gov auch einen link zu einem virtuellen Rundgang mit: Inside the Library with Kurt Maier.