Taiwan: Der wilde Westen fängt im Osten an

Ja, sind wir denn im wilden Westen? Der Totempfahl, die grobe Kleidung, die Federn im Haar – das alles wirkt wie aus einer Western-Kulisse. Und doch sind wir in der Republik China, auf der Insel Taiwan. Atayal heißt der Volksstamm, der im wilden Osten, beheimatet ist, eine von 13 Volksgruppen australo-polynesischen Ursprungs. „Aborigines“ wie die Australier nennen denn auch die Taiwanesen diese Ureinwohner, die gerade mal zwei Prozent der 23 Millionen Insulaner ausmachen. Im Leader Village  Taroko kommt Deftig-Bodenständiges auf den Tisch und im Verkaufsraum gehen Wildschweinzähne, Federn und Schnitzereien über den Tresen.

Die Landschaft ist wild und ursprünglich. Bis vor einem halben Jahrhundert führte keine Straße durch die steilen Felsen der Taroko-Schlucht.  Rund 7000 Arbeiter waren drei Jahre und neun Monate am Werk, um die Straße zu bauen. Tunnels mussten in die Felsen getrieben,  Wege befestigt,  Brücken gebaut werden. Eine gefährliche Arbeit. Heute erinnert der „Schrein des ewigen Frühlings“ an die 212 Toten und die 702 Verletzten, die der Straßenbau forderte. Schon drei Mal, so weiß es unsere Führerin Lily, haben die tosenden Wassermassen die Straße weggeschwemmt. Ich glaube es ihr gerne: Schäumende Wasserfälle donnern von den Bergen,  gigantische Granitbrocken liegen im tief eingeschnittenen grauen Bachbett wie Riesenspielzeuge. Der Fluss modelliert die Landschaft. Die überhängenden Felsen tragen Bärte aus Farn, überall tropft es unter der grauen Wolkendecke. Die Gegend erinnert an chinesische Tuschezeichnungen in grün kolorierten Grauschattierungen.
Viele Wanderwege führen durch die unzugänglich wirkende Landschaft. Auf dem Lyushui Trail kommt man nicht nur der Natur auf die Spur, sondern auch einem dunklen Kapitel taiwanesischer Geschichte. Auf Tafeln  wird an  die 50 Jahre währende japanische Herrschaft erinnert, unter der  die Bergvölker  besonders zu leiden hatten. Vor allem die Atayal verweigerten sich den Invasoren. Bei einem Massaker im Jahr 1930 sollen japanische Truppen mehrere tausend Ureinwohner getötet haben.
 In der Natur erinnert nichts an die Tragödie. Schmetterlinge taumeln durchs Grün, Vögel zwitschern, Wasser rauscht. „Still“, sagt Lily und legt  lauschend den Finger auf den Mund. Und dann kommt uns eine Gruppe giggelnder, kreischender Schüler entgegen, die gerade eine Mutprobe hinter sich gebracht haben. Sie haben den rabenschwarzen Tunnel durchschritten, in den wir nun blindlings hineinstolpern. Hilflos strecke ich die Hände aus, um nirgendwo anzuecken. Draußen blendet das Tageslicht und immer wieder öffnen sich Ausblicke auf den silbrig funkelnden Wasserfall gegenüber. Eine schwankende Hängebrücke verbindet die beiden Flussufer miteinander. Vergeblich warnt Lily vor den Gefahren. Ich muss auf die Brücke und zurückschauen in den Schlund der Schlucht. 
Denn schon weitet sich das Tal,  links eine mit roten Lampions geschmückte Brücke, rechts grüne Hügelkuppen, vor uns ein moderner Hotelkomplex.
Der wilde Osten Taiwans ist im Tourismus angekommen. Im ersten Morgenlicht wandere ich hinauf zu der Pagode hinter der Brücke. Alles ist still. Die letzten Frühnebel hängen noch in den Bergen wie ein zerfetzter Schleier. Ein uralter Mönch löscht die Lichter im Schrein, wo drei Buddha-Statuen über die Welt wachen. Hinter den Bergen geht die Sonne auf und übergießt die Hügel mit rotgoldenem Licht. Ich schaue und staune und denke an Lily. Der kleinen Chinesin geht das Herz auf, wenn sie aus dem lauten Taipei, wo sie bei ihrer Mutter wohnt, hierher kommt. Ich kann’s ihr nachfühlen.
Der Shakadang Trail macht auch die anderen aus der Gruppe glücklich. Die Naturliebhaber, die Wanderer und die Fotografen sowieso. Ein Motiv wie aus dem Bilderbuch oder aus einem Lehrbuch der Fotografie. Eine Wasserscheide unter der rot bemalten Brücke mit den Löwenköpfen. Auf der einen Seite der graue Fluss, auf der anderen der türkisgrüne Zufluss. Den im Sonnenlicht wie ein Opal funkelnden Bach entlang führt ein Wanderweg in eine verzauberte Welt, ein vergessenes Tal. Jede Biegung öffnet neue Ausblicke auf Felsen, in die das Wasser geometrische Muster gegraben hat, auf riesige, bemooste Felsblöcke, auf steil aufragende Berge im grünen Pelz. Ich kann nicht aufhören in diese Zauberwelt zu laufen und an jeder Ecke Neues zu entdecken. Ein paar Arbeiter, die den Weg befestigen, winken mich lächelnd durch. Ein Jogger fragt nach seinem Rucksack, den er auf einer Bank am Anfang des Wegs abgestellt hat. Von Ferne höre ich Lily rufen. Der Bus wartet schon.
Und das Mataian Aboriginal Village, mit 5000 Einwohnern das größte Dorf der Amis,  die mit 140 000 die meisten der Ureinwohner stellen. Weil sie sich klein machten, sich anpassten, brav im japanischen Heer dienten, entgingen sie der Verfolgung. Unterdrückt fühlten sie sich dennoch bis vor wenigen Jahren. Auch im Taiwan des Chiang Kai-Shek und seiner Nachfolger durften sie ihre Sprache nicht sprechen, ihre Tradition nicht leben. Jetzt hat der Inselstaat das Potenzial der Bergstämme für den Tourismus entdeckt und Mataian ist ein Vorzeigeprojekt, gerade erst zur Nummer 1 im Ökotourismus gekürt.
Lamen erzählt, was das Dorf zu bieten hat. Die junge Frau wirkt so gar nicht folkloristisch. Mit dem modischen Pulli, den Jeans, der modernen Brille und dem Kurzhaarschnitt würde man sie eher in einem Büro in Taipei erwarten oder in der Universität. Die 24-Jährige hat auch studiert, englisch und japanisch. Jetzt stellt sie sich in den Dienst ihres Dorfes und lädt zu einer Zeitreise in eine andere Zivilisation ein. Fischer waren die Ami über die Jahrhunderte hinweg und sie lebten im Matriarchat. Die Traditionen werden von der Mutter auf die Tochter überliefert, denn von einer Schriftsprache ist nichts übrig geblieben. Vielleicht, weil die Ahnen auf Steine schrieben, die bei Erdbeben oder –Rutschen verloren gingen, mutmaßt Lamen. Und Vater Lalan, ein begnadeter Alleinunterhalter, übersetzt „ich liebe dich“ in die Sprache seiner Vorfahren – ein halber Absatz. So kompliziert kann Liebe sein. Nicht für Lamen. Ihr Freund könne glücklich sein, dass er sie habe, sagt sie selbstbewusst. Einwände gegen die matriarchale Lebensweise habe er nicht. Warum auch?  So locker wie bei den Amis wird selten geschieden: Die Frau muss nur das Küchenmesser aus dem Haus werfen, und schon ist die Ehe aufgelöst. Vater Lalan lacht herzhaft, als er das erzählt. Seine Frau benutzt das Messer nur zum Schneiden nicht zum Scheiden. Im Restaurant des Dorfes serviert Lamens Tante am Abend Steinsuppe. Fleisch und Gemüse werden mit heißen Steinen gegart. „Schmeckt lecker“, lobt Lily und holt sich einen Nachschlag.
Ich lege mich lieber in die Suppe, wie die Taiwanesen das Baden in den heißen Quellen umschreiben, die überall auf der Insel sprudeln. Das hat Taiwan, Teil einer vulkanischen Inselkette, seiner Lage zu verdanken. Im East Rift Valley stoßen die eurasische und die philippinische Platte aufeinander. Die Folge ist eine idyllische Berg- und Tallandschaft, unter der die Erde brodelt. Der Osten der Ilha Formosa, der schönen Insel, wie die portugiesischen Entdecker 1517 Taiwan nannten, kann ganz schön wild sein.   
 

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