Das Dächergewirr und die labyrinthischen dunklen Gänge sind weltbekannt. Hier suchten Salim und seine Freunde Zuflucht vor der Polizei, denen die Kinder einen Streich gespielt hatten, hier wurde die Mutter der Brüder Salim und Jamal von wütenden Horden erschlagen, hier verliebte sich Jamal im Gewitterregen in die kleine tropfnasse Latika. Danny Boyles Film „Slumdog Millionär“, in dem ein Junge aus dem Slum den Hauptgewinn abräumt, hat die Slums von Mumbai, dem früheren Bombay, ins Rampenlicht gezerrt. Für viele Mittelstands-Inder, die es leid sind, ihr Land als Hort des Elends abgebildet zu sehen, ein Sakrileg. Für andere eine gute Tat.
„Der Film hat uns die Augen für unser Land geöffnet“, sagt Mamta Singh, als Nichte des Maharadschas von Jodhpur und Director of Sales im schlossartigen Taj-Hotel Umaid Bhawan Palace in Jodhpur vom Leben verwöhnt. Die junge Frau im eleganten azurblauen Sari hat den Film nicht bis zum Ende anschauen können, weil er ihr beinahe das Herz brach. An den Verhältnissen vor Ort hat sich freilich seither wenig geändert. Azharudin Ismail, der den kleinen Jamal spielt, und Rubina Ali, die seine Freundin Latika verkörpert, sind wieder zurück im indischen Alltag, zurück im Slum – dem größten Asiens. 18 Millionen Menschen wohnen in Mumbai, schon jetzt die fünftgrößte Stadt der Welt. Und täglich werden es mehr.
Aus allen Ecken des Subkontinents strömen Arbeitssuchende in die Glitzermetropole auf der Suche nach einem Krümel von dem Glück, das ihnen vor allem die Bollywood-Filme vorgaukeln. Und das es in Mumbai natürlich auch gibt: Für die Bollywoodstars und die Generalmanager der großen Firmen, die Unternehmer und die Millionäre oder gar für Mukesh Ambani, Chef der Petrochemiefirma Reliance und laut Forbes Liste einer der reichsten Menschen weltweit. Für schlappe 750 Millionen Euro baut der Unternehmer derzeit einen gläsernen Wohnturm für sich und seine Familie. 27 Etagen für sechs Personen – und 600 Angestellte. Allein sieben Stockwerke in der zukünftigen Residenz Antilia sind für die Luxusautos des Milliardärs reserviert. Ein Protzobjekt, das selbst indische Zeitungen als „obszöne Zurschaustellung des Reichtums in einem armen Land“ verurteilen.
Immerhin leben in Mumbai rund zehn Millionen Menschen in Slums und eine Vielzahl haust in Löchern, die den Namen Wohnung nicht verdienen. Weil die Mieten seit 1967 eingefroren sind, verfaulen die alten viktorianischen Häuser, bröckeln die Fassaden und so manchem Hausbewohner fällt buchstäblich die Decke auf den Kopf. 540 Euro beträgt das durchschnittliche Prokopfeinkommen in der Stadt der Traumfabrik. Und viele leben buchstäblich von der Hand in den Mund. Doch Indien ist nicht umsonst das Land der Gegensätze, ein Land, das scheinbar mühelos in vielen Jahrhunderten gleichzeitig lebt. In den neuen, den glitzernden Wohnvierteln der Boomtown, in der 30 Prozent des indischen Steueraufkommens erwirtschaftet werden, legen die neuen Reichen locker zwölf bis 14 Millionen Dollar für gigantische Eigentumswohnungen in den funkelnden Wohntürmen aus Glas und Beton hin. Auch die Armen sollen künftig hoch hinaus, wenn es nach den Plänen von Mukesh Meta geht. Der Architekt will Mumbais größten Slum Darawi sanieren und plant statt der Wellblech- und Pappverschläge Wohnungen in Wolkenkratzern. Noch aber wimmeln die Slumgassen von Kindern wie Jamal und Latika, die sich von dem ernähren, was andere wegwerfen. „In Hollywood hatten wir Betten und Klimaanlage, hier müssen wir auf dem Boden schlafen und Angst vor Moskitos haben“, jammerte der Darsteller Jamals nach seiner Rückkehr in den Slum, wo ihm Paparazzi auflauerten.
Das Schicksal der Kinderstars, die mit Oskars dekoriert nach Hause kamen und trotz ihres Erfolges der Armut nicht entfliehen können, beschäftigt die indischen Zeitungen derzeit fast ebenso sehr wie die Verhandlung gegen den mutmaßlichen Terroristen Mohammed Ajmal Kasab. Dem einzigen Überlebenden der Anschläge von Mumbai wird derzeit im viktorianischen High Court der Stadt der Prozess gemacht. Am 11. November 2008 hatten mehrere Gruppen bewaffneter Männer mit Schnellfeuergewehren und Handgranaten gleichzeitig mehrere Ziele in der Innenstadt angegriffen, darunter das auch bei Touristen beliebte Szene-Cafe Leopold, den Hauptbahnhof und das Luxushotel Taj Mahal Palace. Dutzende von Menschen starben, hunderte wurden verwundet. Noch heute sind die Narben zu sehen, der Victoria Terminus ist Baustelle und das Taj Hotel in der Innenstadt restauriert den von Explosionen versehrten Palastflügel. In der Lobby erinnert eine kleine Gedenkstätte an die Toten.
Nur die auffallende Präsenz von Militär und Polizei lässt ahnen, dass Mumbai nicht ganz so friedlich ist wie es nach außen hin wirkt. Am Gateway to India, dem Wahrzeichen der Stadt, sind an diesem Sonntag Abertausende zum Feiern zusammengeströmt. Und am Montag fahren wie alltäglich acht Millionen Menschen mit den Zügen in die Metropole, zusammengepfercht wie in Viehwaggons. „Zusammenrücken“ ist für den indischen Autor Suketu Mehta denn auch eine echte Tugend der Bürger von Mumbai. Am Victoria Terminus kann man das schon mal üben, denn so leer wie in der Szene, in der sich Jamal und Latika wieder finden, sind die sonst überfüllten Bahnsteige nur im Film.
Fast filmreif ist das Happy End, das sich für Latika, alias Rubina, abzeichnet. Ein vermögender Geschäftsmann aus Qatar will für die Ausbildung des Mädchens aufkommen, nachdem Gerüchte laut geworden waren, ihr mittelloser Vater wolle Rubina für die Summe verkaufen, die Slumdog Jamal im Film gewonnen hatte. Rubina lebt mit Vater und Stiefmutter in einem Einzimmer-Verschlag und geht in die örtliche Schule. Sie will einmal eine richtige Schauspielerin werden…