Am Abfluggate im Münchner Terminal 2 staunten die Passagiere nicht schlecht. Zu Musik und Reden gab’s Häppchen für die VIPs und Bierkrüge für die Crew. Grund der Feier mit dem obligatorischen Ribbon-Cutting: Thomas Klühr, LH-Konzernbeauftragter und Leiter Hubmanagement München, durfte erstmals gleich zwei neue Langstreckenflüge ansagen. Unterschiedlicher können die beiden Ziele allerdings kaum sein, obwohl beide in der Boomregion Asien liegen. Das Ziel des einen Fluges – eine Wiederaufnahme -, Singapur, kennt jeder. Der Stadtstaat mit dem Sauberkeitsimage ist ein Fixpunkt auf der touristischen Landkarte. Der zweite Flug dagegen führt in die chinesische Provinz nahe der nordkoreanischen Grenze, nach Shenyang.
Die Sieben-Millionen-Stadt ist noch ein weißer Fleck auf der touristischen Landkarte, für Geschäftsreisende jedoch schon länger eine Top-Destination. Die Stadt im „Rusty Belt“, dem rostigen Gürtel, wie die Gegend von den Chinesen wegen der lange Zeit dominierenden Stahlindustrie genannt wird, hat sich zu einem boomenden Wirtschaftszentrum gewandelt. Auto- und Schiffsbau haben sich am Ufer des Hunhe angesiedelt, Pharmazie und IT-Industrie. Auch zahlreiche deutsche Unternehmer sind dabei wie die bayerische Autoschmiede BMW, die in Shenyang mit dem chinesischen Autobauer Brilliance im Joint Venture Autos der 3er und 5er Reihe produziert, den 5er in der von den Chinesen favorisierten Langversion.
Nicht zuletzt das BMW-Werk gab den Ausschlag dafür, dass sich Lufthansa für Shenyang als sechstes Ziel in der Wachstumsregion China entschieden hat. Allerdings mit dem Umweg über Seoul. Damit will die Airline die nötige „Grundauslastung“ für den Airbus A340-300 schaffen, der die Strecke bedient. Man wolle „mit Augenmaß“ wachsen, betonte Thomas Klühr, der sich darauf einrichtet, dass in Shenyang „ein langer Atem“ nötig sein wird, um die Strecke erfolgreich im Markt zu verankern.
Zumindest zu den olympischen Spielen will Shenyang international Interesse wecken. Einige der Fußball-Vorrundenspiele werden im neu gebauten Stadion stattfinden. Die an eine Doppelmuschel erinnernde Stahl-Beton-Konstruktion wurde binnen zwei Jahren in einem Kraftakt hochgezogen. 12 000 Menschen arbeiteten Tag und Nacht an dem neuen Symbol der über 2000 Jahre alten Stadt.
Noch sind die Spiele Zukunftsmusik und die meisten Passagiere auf dem Erstflug steigen in Seoul aus. Auch da ist Feiern angesagt, in kleiner Runde, bei Tee und süßen Sachen. Wieder gibt es ein Ribbon-Cutting, ehe die verbliebenen Reisenden erneut die Maschine besteigen, die sie in eineinhalb Stunden nach Shenyang bringt. Hier wird der Lufthansa-Flieger schon erwartet und bei der Landung mit einer Wasserfontäne begrüßt. Fotografen säumen die Landebahn, aufgeregte Sicherheitskräfte in orange-farbenen Warnwesten scheuchen die Neugierigen an den Rand. In der Gangway ist ein roter Teppich ausgerollt, in akkuratem Abstand sind Blumengebinde angebracht und geduldig lächelnde Menschen aufgereiht.
Die Soldaten, die im Flughafen selbst die Einreiseformalitäten überwachen, lächeln nicht. Wie Zinnsoldaten stehen sie starren Blicks vor den Ankommenden. Im Hintergrund hält sich eine Mannschaft mit Plexiglas-Schildern bereit. „Das ist erst seit ein paar Tagen so“, flüstert eine Lufthansa-Mitarbeiterin. „Vielleicht wegen der olympischen Spiele.“ Und dann ziehen die Soldaten plötzlich ab, im Gleichschritt und ohne die verblüfften Reisenden eines Blickes zu würdigen. „Vielleicht üben die noch“, mutmaßt ein Passagier. Willkommen in China.
Shenyang selbst präsentiert sich auf der Höhe der Zeit mit breiten Boulevards, die wie Schneisen die Wohnschluchten durchschneiden. Der Verkehr rauscht sechs- oder achtspurig durch die Stadt. Überall wird gebaut – und vorher alte Bausubstanz abgerissen. Wo noch vor kurzem graue Wohnhöhlen standen, werden jetzt moderne Wolkenkratzer in die Höhe gezogen, gern verspiegelt oder mit verspielten Türmchen gekrönt. Luxuriöses Wohnen auf 120 bis 140 Quadratmeter verspricht eine Bautafel in einem der nobleren Viertel. In den Shopping Malls haben Gucci, Prada, Armani & Co Einzug gehalten. Die Kathedralen des Konsums schmücken sich mit Beton-Barock oder goldglänzenden Fassaden. Vor den Fenstern des Kempinski Hotels ragt der schlanke weiße Fernsehturm 300 Meter in die Höhe.
„Shenyang ist wie ein junger Mann, voller Energie“, sagt Aida, der junge Stadtführer und schwenkt energisch sein Fähnchen. Jung sind vor allem die Passanten in der Stadt, die Männer in Jeans und farbenfrohen T-Shirts, die Mädchen im modischen Zwiebellook mit teilweise schriller Haarpracht, die Kinder fein herausgeputzt. Es scheint kaum alte Leute zu geben; oder sie fallen nicht auf in ihren grauen Klamotten und mit den grauen Haaren. Sie gehören zur Vergangenheit wie die trostlosen grauen Fassaden, die zum Abbruch bestimmt sind. Shenyang, die alte Hauptstadt der Mandschurai, schaut nach vorne in die Zukunft.
Nur ein paar Relikte aus der alten Zeit werden diesem Blick standhalten. Der Kaiserpalast etwa, der kleine, feine Prototyp von Pekings „verbotener Stadt“. Aida spricht aufgeregt in seine Flüstertüte, erzählt von Dachreitern, Konkubinen, dem Theater, der – längst verlorenen – Bibliothek und der glorreichen Geschichte: In der Thronhalle Chongzhengdian wurde der erste Kaiser der Qing-Dynastie, die später über ganz China herrschte, gekrönt. Die okotogone „Halle der großen Regierung“, wo einst Audienzen und kaiserliche Zeremonien stattfanden, wird gerade aufgehübscht. Überall sind Maler unterwegs, Bauarbeiter schieben Schubkarren mit Zement durch die weitläufige Anlage, Bambusgerüste versperren immer wieder den Blick auf einzelne Gebäude. Ein kleiner Junge, von seinen Eltern als kleiner Kaiser verkleidet, rennt vor dem Fotoapparat davon. Ein anderer in der traditionellen geschlitzten Hose turnt durch die Gitter. Ein kleines Mädchen im weißen Prinzessinnenkleid posiert wie ein Model. Im Schatten einer Pinie ruht sich ein Arbeiter aus, eine Schulklasse schwärmt schnatternd durch die Räume der Konkubinen. 50 Frauen hatte einer der alten Kaiser, verrät Aida ehrfürchtig, und sie alle wollten fürstlich untergebracht sein. Immerhin war Shenyang damals die Hauptstadt Chinas.
Noch schöner als die „verbotene Stadt“ ist das Zhaoling Kaisergrab im Beiling Park. In die riesige Gartenfläche mit Bäumen, Blumen und Seen sind die wunderbar erhaltenen Gebäude aus dem 17. Jahrhundert eingebettet. Symboltiere wachen in Reih’ und Glied vor dem Aufgang zum Schrein. Eine große Mauer umgibt die Anlage und die Gebäude mit pagodenartigen Dächern und Dachreitern. Das Grab selbst ist ein großer grauer Tumulus, auf dem ein einzelner Baum wächst. Es ist still hier und friedlich. Kein Aida, der in seine Flüstertüte redet, kein Autolärm, nur Kinderlachen. Auf dem Weg zum großen Schrein messen sich zwei alte Männer im Drachensteigen.
Draußen vor dem Tor macht sich die neue Zeit wieder breit mit Hochhäusern und Straßenschneisen. Alles ist groß. Die Häuser, die Straßen, die Plätze, die Denkmäler. Der gigantische, zentrale Platz vor dem erstaunlich unscheinbaren Rathaus wird von der vergoldeten Statue des „Sonnenvogels“ überragt, einem Totem aus grauer Vorzeit. Untertags ist der Platz fast leer. Am Abend nehmen ihn die Einwohner in Besitz, musizieren, tanzen, spielen. China ist ein Land der öffentlichen Räume. Jetzt spielen nur zwei kleine Kinder unter den Augen ihrer stolzen Mutter mit einem Luftballon. Als das kleine Mädchen die langnasigen Touristen sieht, lässt es vor Schreck die Schnur los und der Ballon fliegt in den Himmel über Shenyang.
Zwei Tage nach der Ankunft und nach einer großen Inaugurationsfeier in einer aufgelassenen Stahlfabrik hebt auch die Lufthansa-Maschine wieder ab – mit an Bord die Frau des örtlichen BMW-Chefs. Von oben wirkt die Stadt mit ihren vielen Parks und den frisch implantierten Bäumen grün und aufgeräumt. Shenyang ist bereit für die olympischen Spiele.