Es war einmal, da grünte und blühte es auf der Marmolada, dem eisgekrönten höchsten Berg der Dolomiten. Im Sommer brachten die Bauern das würzige Heu der Bergwiesen ein. Doch am 15. August unterbrachen sie ihre Arbeit, um in die Kirche zu gehen. An diesem geheiligten Feiertag feierten alle frommen Bauern Mariä Himmelfahrt – alle bis auf einen. Der wollte seine Heuernte noch trocken in den Schober bringen. Tatsächlich fing es schon am Abend an zu schneien. Es schneite die ganze Nacht hindurch und den nächsten Tag, ja die ganze Woche und hörte nicht mehr auf, bis der ganze Gipfel von einem Eispanzer bedeckt war.
Als Skilehrer Karl, 55 und mit langen Haaren Typ Althippie, die Sage vom Marmolada-Gletscher erzählt, schneit es gerade wieder – wie so oft in diesem ungewöhnlichen Südtiroler Winter. Wie eine weiße Daunendecke liegt der Schnee auf dem Gletscher, deckt gnädig die Schrunden zu, die Jahre der Klimaerwärmung im ewigen Eis hinterlassen haben.
Dabei hat der Gletscher auch Zeugnisse einer der bizarrsten Stellungskriege der Geschichte ausgeschwitzt – Geschosse, Hüttenreste, Helme. Zwischen 1915 und 1918 kämpften in den schroffen Felsen der Dolomiten Österreicher und Deutsche in einem verbissenen Stellungskrieg gegen Italiener. Die Gletscherschmelze hat auch Reste der legendären „Stadt im Eis“ ans Tageslicht gebracht, einem „Tunnelsystem mit Unterkünften für 600 Soldaten, Feldlazarett, Frisör und Kirche“, so Karl. 50 Meter tief hatte Kaiserjäger Leo Handl diese unterirdische Versorgungsstation in den Eispanzer gebohrt. So waren die Soldaten vor den feindlichen Truppen geschützt, nicht aber vor der feindlichen Natur. 1916 wurden bei einem Lawinenabgang 300 Soldaten von 200 000 Tonnen Schnee begraben. Karl weist auf ein kleines Museum an der Mittelstation der Bergbahn hin, das die Skifahrer an dieses „Verdun im Eis“ erinnern soll. Doch die meisten fahren an diesem Memento Mori vorbei, wollen vor allem die grandiose zwölf Kilometer lange Abfahrt genießen, den fantastischen Blick auf die zerklüfteten Dolomitentürme und den silbern funkelnden Fedaia-Stausee.
Die winterliche Invasion in den Dolomiten ist schon seit langem friedlich. Ziel der meisten Skifahrer ist die Sella Ronda, eine der schönsten Skitouren der Welt mit kinoreifen Ausblicken und – dank modernster Aufstiegshilfen und perfekt präparierter Pisten – auch für jedermann/frau nachvollziehbar. 550 000 Skifahrer sind hier alljährlich unterwegs, 10 000 Tag für Tag. Dass ein Junge aus Wolkenstein im letzten Winter die Sella Ronda gleich fünf Mal gefahren ist, hat den schnellen Karl trotzdem verblüfft. Fast 100 Jahre vor dem Jugendlichen, so erzählt er, habe sich der Meraner Peter Böttl bei seiner Skitour wohl etwas härter getan. Am 12. Januar 1912 startete Böttl zu einer zweitägigen Tour rund um den Sellastock und kam laut Bozener Nachrichten unverletzt zurück. Das war die Geburtsstunde der Sella Ronda – allerdings noch ohne Lift. Heute surren im Skikarussell von Dolomiti Superski 440 Lifte, und Schilder in grün oder orange weisen den Skifahrern den Weg zur beliebten Sella Ronda, mal rechts rum, mal links rum.
Über steile, bei dem Pulverschnee aber genussreiche Abfahrten von der Bergstation Porta Vescovo führt Karl sein Grüppchen hinunter nach Arabba. Dem ladinischen Bauerndorf, Teil von Livinallongo/Buchenstein und bis nach dem Zweiten Weltkrieg im Winter von der Welt abgeschnitten, brachte die Sella Ronda den ersehnten Aufschwung – aber auch so manche Versuchung. „Wir können uns nicht mit Corvara vergleichen, verstehen Sie“, wehrt sich ein alter Tourismuspionier gegen zu viel touristischen Zulauf und die damit verbundene Veränderung. Eisengrau ist er mit roten Bäckchen und Augenbrauen wie Dächern. Schöner sei Arabba durch denn Wintertourismus schon geworden, räumt er ein. Aber vor den Blechlawinen und alpenländisch verbrämten Zweitwohnungen möge das Dorf verschont bleiben. Arabba brauche nicht mehr Touristen, sondern mehr Bewohner. Viele sind aus der ehemals bettelarmen Gegend ausgewandert und nie mehr zurück gekommen.
„Wir haben zwei bis drei Generationen von jungen Leuten verloren“, sagt Artur Filippin, braune Augen dunkle Haare, schmales Gesicht. Der 31-Jährige sammelt Zeugnisse aus der Geschichte des Ortes: alte Ansichtskarten, Briefe, Bilder, Zeitungsausschnitte. Viele aus der Zeit des ersten Weltkriegs, die meisten mit deutschen Texten. Eine der Ansichten, die ihm besonders am Herzen liegt, ist ein blutrotes Wolkenkreuz über dem Col di Lana. Hunderte von Toten forderte der erste Weltkrieg an diesem „Blutberg“, dem die Italiener bei der Gegenwehr den Gipfel wegsprengten. Auch viele „Standschützen“ aus den ladinischen Orten ließen damals ihr Leben. Ihnen vor allem gilt die Aufmerksamkeit des traditionsbewussten Sammlers Filippin. Von manchen kennt er mittlerweile die ganze Lebensgeschichte.
Auch als Hauptmann bei den vor zwei Jahren wieder gegründeten Schützen von Buchenstein (Livinallongo) pflegt der Vater von zwei Kindern die Erinnerung. Den Schützen, so steht es in der Satzung, liegt die Pflege der ladinischen Sprache und Kultur sowie „die Förderung des Tiroler Identitätsbewusstseins“ am Herzen. Mit der Identität ist das so eine Sache: Weil sich die drei ladinischen Gemeinden Cortina, Buchenstein und Colle Santa Lucia, die nach dem ersten Weltkrieg an die italienische Provinz Belluno fielen, dort als Stiefkinder fühlen, stimmten sie bei einem Referendum 2007 für eine Wiedervereinigung mit der Region Trentino-Südtirol. Die drei Gemeinden, so hatte es Karl erklärt, gehörten bis 1918 immerhin 400 lange Jahre zu Südtirol.
„Wir leiden noch heute unter den Folgen des Ersten Weltkriegs“, sagt nun Artur Fillipin bitter. Die alten Geschichten sind für ihn alles andere als Schnee von gestern.
Januar 17, 2013
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