Die Crostini mit Trüffelpaste und Käse stehen schon auf dem Tisch, als wir am Abend in der Villa Ambra, unserem Quartier nahe Montepulciano, zum Abendessen gehen. Hotelier Marzio Pagliai hat uns am Nachmittag persönlich den Prosecco an den Pool gebracht. Und jetzt streckt seine Schwester Catia den Kopf aus der Küche, um zu sehen, ob es uns schmeckt. Außer uns sind nur wenige Gäste in dem Familienhotel und wir alle dürfen uns als Könige fühlen, freundlich umsorgt von Bruder und Schwester.
In diesen Wochen nach dem 1. Mai, wenn ganz Italien unterwegs ist, haben nicht nur die Hotels Platz, es gibt keine Schlangen vor den Museen und Kirchen und die Straßen sind nicht verstopft. Ja, sie sind oft sogar menschenleer. Ein ganz neues Toskana-Gefühl.
Selbst da, wo die Toskana nach Meinung der Unesco am schönsten ist, im Weltkulturerbe Val d’Orcia, sind die Dörfer auf den Zypressen gekrönten Hügeln menschenleer. Nichts los in San Quirico d’Orcia mit den schönen Kirchen, wie ausgestorben die blühenden Gärten der Leonni. Kein Mensch auf der Piazza in Castiglione d’Orcia, geschlossen der gewaltige Wehrturm Rocca Tentennano. Und Radicofani, das mittelalterliche Juwel, im Dornröschenschlaf.
Wir fühlen uns wie Entdecker, wagen uns immer weiter vor auf die kleinen und kleinsten Sträßchen, die manchmal im Nichts enden, aber immer durch traumschöne Landschaften führen, durch verzauberte Wälder wie bei Vivo d’Orcia, über aussichtsreiche Höhen wie in Monticchello, durch silbrig glänzende Olivenhaine und Blütenmeere. Schafe sprenkeln sattgrüne Wiesen, weiße Kühe, ein paar Ziegen. Vögel zwitschern Hymnen, alles leuchtet, alles sprießt.
Zartgrüne Blättchen auch an den Weinreben, die uns Catia Pagliaia im eigenen Weinberg zeigt. Die Pagliaias sind nicht nur Hoteliers, Catia ist nicht nur eine großartige Köchin – die Familie produziert auch Wein und Olivenöl. Und sie hat auch noch ein Landhaus, das als Agriturismo vermietet wird, für Selbstversorger. Wir dagegen genießen Catias einfallsreiche Küche: Die Graupensuppe mit Steinpilzen. Die Maltagliatti mit Spargel, Tomaten und Pilzen. Die Fleischplatte mit gefülltem Kaninchen und Roastbeef, kleinen Kartoffeln und Zucchinisoufflee. Und schließlich muss noch die Tiramisu-Variation mit Amaretti rein. Es wäre eine Sünde, das leckere Dessert stehen zu lassen. Auch vom Wein lassen wir keinen Tropfen übrig, weder vom süffigen Vernacchio noch von Marzios Vino Nobile. Wie gut, dass wir an diesem Abend nicht mehr fahren müssen.
Das tun wir am nächsten Tag dafür umso ausgiebiger. Zu verlockend sind die menschenleeren Sträßchen, die stillen Kirchen, die verlassen wirkenden Orte. In Pienza holt uns der Rummel ein. Plötzlich Massen. Wo sie nur herkommen? Der Blumenmarkt vor der mächtigen Kathedrale des Renaissance-Städtchens, hat sie herbei gelockt. Ein Blumenteppich bedeckt die Piazza Pio II, betörend duftend, farbenfroh und völlig unbeeindruckt von den Perspektiven, die den Renaissance-Baumeistern so wichtig waren. Die „ideale Stadt“ wollte Pius II. aus dem Ort machen, wo er als Enea Silvio Piccolonini geboren worden war. Zwischen 1459 und 1462 verwirklichten die Baumeister den päpstlichen Traum auf engstem Raum – ein genialer Architekturstreich. Auch im abgelegenen Sant Antimo, der Abtei, die angeblich von Karl dem Großen gegründet wurde, herrscht Hochbetrieb. Hunderte von Jugendlichen lagern in den Wiesen rund um die mittelalterliche, derzeit eingerüstete Kirche. Schulausflug in die Geschichte. Verschlafen dagegen die Abbazia di San Salvatore, eine strenge Zisterzienserkirche im romanischen Stil, unter der die Krypta aus der Zeit der Langobarden mit ihren 36 Säulen wie ein versteinerter Wald wirkt. Das architektonische Kleinod ist in der eher gesichtslosen Bergbaustadt Abbadia San Salvatore am Fuß des Monte Amiato versteckt. Auch der mittelalterliche Borgo, der an die Abtei anschließt, lohnt einen Besuch. Wir schlendern durch die engen, düsteren Gassen und fühlen uns wie in einer Filmkulisse.
In Montepulciano regnet es in Strömen. Der Duomo spiegelt sich in den großen Pfützen, wir verzichten auf den Blick vom gotischen Rathausturm und suchen Zuflucht in der Cantina Contucci, einem prächtigen Palast gegenüber, wo man sich über Nacht in einem herrschaftlichen Zimmer wie die Fürsten fühlen kann. Es ist kalt geworden und windig. Ein Capuccino im Cafe Poliziano, wo auch Pirandello und Malaparte, Mario del Monaco und Giuletta Masina gerne saßen und vom Balkon aus in die toskanische Landschaft schauten, wärmt uns wieder auf. Gleich gegenüber dem „ältesten Cafe“ lädt der „älteste Laden von Montepulciano „Maledetti Toscani“ , zum Einkaufen ein: die exklusiven Lederwaren und noblen Papiere haben schon manchen ausländischen Politiker und manch anderen Prominenten nach Montepulciano geführt, wie die Bilder an den Wänden zeigen.
Es schüttet auch in Sinalunga. Erst in Lucignano erwischen wir eine Regenpause und bummeln durch gepflasterte Gassen zum Kirchplatz. Durchnässte Katzen huschen vorbei, zwei alte Frauen unterhalten sich von Fenster zu Fenster. Bevor der Regen wieder einsetzt, fahren wir weiter. Civitello in Val di Chiana sitzt auf einer Anhöhe, weithin sichtbar ist die Ruine der mächtigen Burg, die im letzten Kriegsjahr von der SS und italienischen Faschisten zerstört wurde. Das Dorf ist ein stiller Vorwurf. Dem Rachefeldzug der Nazis nach einem Partisanenüberfall auf deutsche Soldaten fielen 1944 alle Männer über 18 zum Opfer, nur der Pfarrer überlebte schwer verletzt. Ein britischer Offizier wurde hier zum Helden, weil er die Überlebenden mit dem Lebensnotwendigen versorgte.
Jetzt blüht die Kunst in den Ruinen der Burg auf, ein englisches Kind spielt zwischen den Skulpturen Verstecken. Es ist, als hätten wir eine Grenze überschritten. Plötzlich hören wir überall englisch.
Auch unser Gastgeber im Agriturismo Denderacchi spricht englisch, Schulenglisch. Signore Molendi und seine Frau haben das Haus aus dem 17. Jahrhundert vor acht Jahren gekauft und vor vier Jahren aufwändig renoviert. Jetzt schläft man in den alten Mauern zwischen sorgsam ausgewählten Antiquitäten wie in Morpheus’ Armen. Der Hausherr serviert zu klassischer Musik einen Prosecco als Aperitif. Zwischen Gemüse-Wurst-Sülzchen, Crostini mit Linsen und Ragout und Gnocci mit Spinat, Tomaten und Kartoffen (von der Mama) haben wir Gelegenheit, ein bisschen zu plaudern. Über die Arbeit, die Kinder und natürlich den Wein. Auch Roberto Molendi produziert Wein und Olivenöl. In der Landwirtschaft fühlt sich der ehemalige Manager noch als Lehrling. Könner unterstützen ihn und so schmeckt sein Chianti Superior auch – vor allem zu den Steaks von den weißen Rindern der Toskana, die ein wunderbar mit Kräutern marinierter Salat begleitet. Beim Obstkuchen verrät uns der Hausherr dann noch die besten Einkaufstipps für den nächsten Regentag.
In Foiana ist das Outlet mit Levis, Maja Schön, Kalvin Klein und anderen wie ein toskanischer Borgo angelegt mit Piazza und kleinen Läden, mit Restaurant und Spielplatz. Doch der Parkplatz wirkt überdimensioniert. In den leeren Läden langweilen sich die wenigen Verkäuferinnen. Vielleicht kaufen die Touristen doch lieber in Arezzo, der Stadt der Antiquitäten. Kleine Boutiquen mit ausgefallenen Klamotten säumen die Gassen, Cafes und Restaurants, Bäckereien, Metzgereien, Feinschmeckerläden. Die ganze Stadt ist ein Supermarkt. Und dazu noch sehenswert: Der wunderbare Freskenzyklus von Piero della Francesca in der Kirche des heiligen Franziskus, die schräge Piazza Grande, das Rathaus mit einer Ausstellung interaktiver Maschinen nach den Codice des Leonardo da Vinci, die Antiquitätenläden. Der Geburtsort Petrarcas macht dem berühmten Dichter immer noch Ehre.
Arezzo liegt schon an der Grenze zu Umbrien. Sichtbar ist sie natürlich nicht, aber spürbar. Die Landschaft wird einsamer, die kleinen Straßen sind noch enger, steiniger und schlechter ausgezeichnet. Wie ein dicker grüner Pelz überziehen Wälder die Hügel und die Städte thronen nicht auf den Bergen, sondern liegen ihnen zu Füßen wie Gubbio. Das uralte Städtchen mit den prächtigen Palazzi, der aussichtsreichen Piazza Grande und den engen Gässchen zieht Touristen magisch an und ist selbst in diesen stillen Tagen gut besucht. Voll sind auch die Straßen in und nach Gubbio und wir sind froh, dass Pietralunga, wo unser nächstes Quartier ist, etwas abseits liegt. Das merkt man ihnen auch an: eng sind sie, kurvenreich und übersät mit Frostaufbrüchen.
Nach La Cerqua, dem Natur-Zentrum mit altem Kloster und Modellbauernhof auf dem Höhenzug gegenüber, gelangen wir auf den schon bekannten Schotterwegen. Wie der große Bus hier herauf gekommen ist, ist uns ein Rätsel. Er hat Schulkinder zum Bauernhof gebracht, wo sie Enten, Truthähne und Hühner, Schweine, Pferde und Schafe ganz von der Nähe sehen und auf dem sorgfältig angelegten Lehrpfad die Vielfalt der umbrischen Natur bewundern können. Im Klettergarten am kleinen Weiher kommen ganz Mutige den Baumwipfeln nahe.
Ein paar Katzen streichen um die Natursteinmauern des alten Klosters aus dem 14. Jahrhundert. Gino Martinelli, studierter Agronom und Naturliebhaber, hat es vor ein paar Jahren geerbt und behutsam restauriert. Aus dem großen, gemütlichen Zimmer unter dem Dach blicken wir direkt auf den blauen Swimmingpool im Gründickicht. Doch es ist kühl und wir kuscheln lieber im einladenden schmiedeeisernen Bett. Drunten prasselt ein gemütliches Feuerchen im Kamin. Es riecht nach Knoblauch und warmem Käse, in der Küche klappert Geschirr und im Salon sind die Tische gedeckt. Wir lassen uns nicht lange bitten. Der Hausherr serviert Focaccia mit Käse und Tomante, Käste-Crostini und Spinat-Strudel. Der Schweinebraten duftet nach Rosmarin, der Salat nach frischen Kräutern und nach dem saftigen Zitronenkuchen schenkt Signore Martinelli noch einen selbst gemachten Johannisbeer-Sherry aus, der schmeckt als würde man eine Schüssel Beeren auf einmal im Mund zergehen lassen. Ein holländische Ehepaar, das in der Nähe ein Haus besitzt, ist extra zum Essen gekommen. Auch ein junges Pärchen aus Mailand schwelgt in den ländlichen Genüssen.
Nachts steht der Mond über dem Tal wie ein riesiger Lampion. Morgen ist Vollmond und dann wird Gino Martinelli mit den Gästen eine Nachtwanderung machen. Urlaub total – für Leib und Seele.