Hier soll sie dazu ausgebildet werden, anderen Schmerzen zuzufügen. Doch
hinter den Regeln der Gruppe, die Amy verzweifelt zu durchschauen
sucht, lautert die Brutalität. In einer Art Casting-Show sollen die
Job-Anwärter zeigen, wie weit sie gehen können. Amy stößt auf ein Opfer –
oder ist auch das eine Inszenierung. In diesem Roman weiß der Leser nie
mehr als die Protagonistin, der anfangs der Alkohol das Hirn vernebelt.
Dieser Nebel lichtet sich erst allmählich. Und siehe da, es gibt
tatsächlich ein Komplott, womöglich auch eine Vergewaltigung und am Ende
auch einen Toten.
Immer schärfer stellt sich das Bild im Lauf der Zeit. Man weiß jetzt,
dass Amy als Tochter einer drogensüchtigen Mutter, als Enkelin eines
Nazis und einer Jüdin, die in einer Pflegefamilie aufwuchs, gerne eine
andere wäre, eine, die funktioniert, die es allen recht macht, der Tante
Schottola, ihrer biederen Pflegemutter, ebenso wie der echten Tante
Marina, einer skurpellosen Unternehmerin, die Amy in der
Sicherheitsfirma untergebracht hat. Naiv wie Voltaires Candide irrt Amy
durch eine alptraumartige Welt und flüchtet sich während des brutalen
Trainings in Träume von der Betsimamma, dem Mammerl und der Tante
Schottala – Mutter, Großmutter und Pflegemutter. Doch auch die entziehen
sich. Die Betsimamma hat eine neue Familie, die Pflegemutter ist
sterbenskrank. Amy muss ihren Weg allein gehen. Nur Gino ist noch für
sie da, der Mann, der eigentlich Ingo heißt und seine Liebe verkauft.
Lässt sich das Leben nur als Lüge ertragen?
Marlene Steeruwitz hat viel hineingepackt in diesen Roman, der sich über
einen Zeitraum von nicht einmal einem Jahr erstreckt: 9/11,
Afghanistan, das Foltergefängnis Abu Ghraib, Heidi Klum, Hänsel und
Gretel, die Katastrophe von Fukushima. Alles scheint außer Tritt, das
scheinbar in Auflösung begriffene Politische wie das Private. Den
Verwüstungen der Seele entsprechen die düsteren Landschaftsbilder.
Steeruwitz’ außergewöhnlicher Stakkatostil treibt die Handlung voran und
holt immer neue Bilder aus dem Dunkel wie unter einem Stroboskop. Dabei
gelingen ihr selbst für banale Szenen noch Bilder, die sich einbrennen.
Eine ungewöhnlich starke Zeitdiagnose.
Marlene Streeruwitz: Die Schmerzmacherin, S.Fischer, 398 Seiten, 19,95 Euro
29Sep. 2011
Schmerzhafte Zeitdiagnose: Marlene Steeruwitz‘ „Die Schmerzmacherin“
Die dunkle Bedrohung ist von Anfang an da. Die Raubvögel, die alten Spuren unter dem weißen Schnee. Amalia Schreiber, genannt Amy, Mitte 20, bildschön und lebensuntüchtig, braucht Wodka, um in dieser Umwelt zu bestehen. Denn nicht nur die Natur ist bedrohlich, auch Amys Job in einer privaten Sicherheitsfirma.