Moskau steht im Stau

Drei Sachen ist ewig: Die russische Seele, die Gedichte von Puschkin und dr Stau in Moskau.“

Wie wahr diese Volksweisheit ist, hätten  wir uns nicht träumen lassen. Hat doch Moskau breite „Prospekte“, Straßen, die acht-, manchmal gar zwölfspurig die Stadt durchschneiden. Als wir an einem Samstag vom modernen Flughafen Domodedovo in die Innenstadt fahren, sind auch kaum Autos unterwegs. Bäuerinnen verkaufen am Straßenrand Beeren, Kinder rennen quer über die Autobahn, auf dem Standstreifen fahren Radler. Geradezu idyllisch.
Doch am Dienstag auf dem Rückweg sieht alles ganz anders aus: Schon in der Innenstadt Auto an Auto, eine Blechlawine, die sich träge auf zehn Spuren durch die Stadt wälzt. Auch wenn Pawel, unser Fahrer, dem Stau hin und wieder ein Schnippchen schlägt, er holt uns immer wieder ein. Wir stecken fest im Moskauer Stop and Go.

Rund 14 Millionen Einwohner leben in der Stadt, etwa so viele wie in der Schweiz und Österreich zusammen, rechnet   Nadeschda, unsere Führerin uns vor. Wie viele es genau sind, weiß niemand. Fünf Millionen Autos muss Russlands Metropole tagtäglich verkraften. Millionen strömen unter der Woche in die Innenstadt zur Arbeit. Und wer mit dem Wagen unterwegs ist, übt sich in Geduld. Es wird viel telefoniert am Steuer, geraucht und geredet und manche(r) nutzt die Zeit und liest schon mal die Zeitung oder auch ein Buch. Eineinhalb Stunden für 15 Kilometer sind nichts ungewöhnliches. Und Moskau ist riesig. 46 000 Quadratkilometer, größer als die Schweiz. 40 Kilometer zwischen der südlichen und der nördlichen Stadtgrenze. 190 Kilometer lang ist die Ringautobahn, gesäumt von Plattenbauten aus den Achtziger Jahren, laut Nadeschda das „Schlafzimmer der Stadt“. Schon längst wäre Moskau am Straßenverkehr erstickt, gäbe es nicht die grünen Lungen, gigantische Parkanlagen, in denen die Stadt aufatmet. Der Gorki-Park, in dem die Scorpions eins  den „wind of change“ wehen ließen, ist nur einer davon.
Auch entlang der Moskwa, die auf 80 Kilometern durch die Stadt strömt, grünt und blüht es. Unterhalb der Sperlingsberge, auf denen die Lomonossov-Universität thront wie ein mächtiges Schloss des Wissens, flanieren Studenten und Professoren auf gepflegten Wegen. Inline-Skater flitzen am Fluss entlang, junge Frauen sonnen sich im Bikini,  Familien machen Picknick.
An der Uferstraße werden neue, luxuriöse Wohnanlagen hochgezogen. „Das hat mit meinem Leben und dem meiner Familie nichts zu tun“, sagt Nadeschda und schaut grimmig. Was Moskaus Reiche für einen Quadratmeter Wohnraum zahlen, verdienen normale Bürger nicht einmal im Jahr. Die ganze Stadt sei „unheimlich reich“ geworden in den letzten Jahren, erklärt die kleine Führerin mit den kurzen, blonden Haaren und der strengen Brille auf der Stupsnase, „aber ein Großteil der Bevölkerung hat nichts davon.“
Nur im Stau scheinen alle gleich zu sein. Wenn Moskau steht, kommen selbst die Bonzen nicht voran. Bei den dicht gedrängten Kolonnen helfen auch Blaulicht und das aufdringliche Kwäken der Leibwächter-Hupen nicht weiter, die bei jeder Gelegenheit ihren Herrschaften hinter den abgedunkelten Scheiben mit brachialer Gewalt Vorfahrt verschaffen. „Moskau ist sehr attraktiv für reiche Leute“, gibt Nadeschda zu bedenken, „wir haben hier alle Banken und 80 Prozent des Geldflusses von ganz Russland“.  Die Zeche zahlen die einfachen Menschen. Wohnraum in der Innenstadt ist nahezu unbezahlbar, selbst Mieten verschlingen „Unsummen“, so  Nadeschda. Sie selbst bewohnt mit ihrem 16-jährigen Sohn ein kleines Appartement, das sie sich durch kluges Wirtschaften erkauft hat.
Die Metro ist nah und macht Mutter und Sohn mobil. 1935 wurde das erste Teilstück der Moskauer Untergrundbahn eröffnet, elf Kilometer zwischen Gorki und Sokolniki Park. Heute umfasst das Streckennetz 293 Kilometer mit 176 Stationen. Neun Millionen Menschen fahren tagtäglich mit den Zügen – vier Millionen waren geplant. Kaum ein Pendler, der in den voll gestopften Zügen Stehvermögen braucht, hat Augen für die Stationen im Zentrum, die mit viel Marmor, Säulen,  Kronleuchtern, Mosaiken und Bronzestatuen  pompös wie unterirdische Paläste wirken. Für Stalins Prestigeobjekt wurde an nichts gespart. In der Komsomolskaja blickt Lenin streng aus einem Deckenmosaik, in der Kiewskaja beschwören Mosaike die russisch-ukrainische Freundschaft und die Belorusskaja dominiert ein monumentales Partisanen-Denkmal.
Für 50 Cent kann man kreuz und quer durch Moskaus Untergrund fahren. Auch zur weithin sichtbaren Baustelle Moskau City, wo unter anderem Europas höchster Turm im Bau ist. Moskau nimmt teil am Schaulaufen der modernen Architekturszene. Bürgermeister Juri Luschkow will den Emiraten nicht alle baulichen Superlative überlassen und lässt auf einem Quadratkilometer gläserne Wolkenkratzer in den Himmel wachsen. Fast schon vollendet sind die von deutschen Architekten  geplanten Zwillingstürme des „Federation Tower“. Wahrzeichen der auf 18 bis 20 Hochhäuser angelegten Glitzerstadt wird jedoch der von Sir Norman Forster entworfene „Russia Tower“, der mit 648 Meter Europas höchster Turm sein wird. Weltweit soll ihn dann nur noch der Burj Dubai überragen. Wo einst Fabrikhallen und öde Plattenbauten standen, wächst jetzt eine moderne Stadt in die Höhe mit teuren Appartements, Wellness-Clubs, Vergnügungs- und Einkaufszentren, einem Aqua-Park und Büros der Stadtverwaltung. Die Brücke über die Moskwa schlägt ein gläsernes Freizeitcenter mit Boutiquen und Cafes, in denen die jeunesse doree der Stadt die Tage verplaudert. Von hier sieht man nicht nur die Zwiebeltürme des Kreml und die goldenen Kuppeln der – nach dem weltanschaulichen Abriss unter Stalin – in alter Pracht wieder auferstandenen Erlöserkathedrale, sondern auch die Silhouette der Kräne.
Ganz Moskau scheint eine Baustelle zu sein. 200 Wolkenkratzer will Luschkow in der Hauptstadt bauen lassen. Dass seine Ehefrau, Jelena Baturina, mit ihrem Bauunternehmen Inteko davon profitiert, scheint unvermeidlich. „Unternehmerische Habgier“ ist das für Nadeschda, die vieles der alten Stadt vom Neubau-Wahn bedroht sieht. Für die gläsernen Giganten von Moskau City hat die 43-Jährige wenig übrig. Da fehlt ihr die Seele oder auch der russische Stil, der die sieben Stalin-Hochhäuser im dekorativen Zuckerbäcker-Stil mit Türmchen und markanter Gliederung heute wieder so anziehend macht.
Wo Neues entsteht, muss Altes weichen. An der Rubljowka, wo sich Moskaus neue Reiche hinter hohen Mauern ihre schlossartigen Villen bauen – auch Putin soll hier wohnen -, sind das vor allem die Datschen, früher Überlebensraum für die von ausbleibenden Löhnen gebeutelten Städter. Villen im toskanischen Stil mit Säulenhallen, zinnenbewehrte Klinker-Burgen, weiße  Lustschlösschen a la Disney – hier sucht Nadeschda die russische Seele vergebens. „Die Leute sind zu schnell reich geworden“, murmelt sie, „die haben den Boden unter den Füßen verloren.“ Einige alte Holzhäuser und Schrebergärten haben noch zwischen den wuchernden Luxusbauten überlebt. Alte Männer in Unterhemden führen ihre Hunde spazieren, alte Frauen schleppen volle Plastiktüten nach hause. Gleich daneben, aber von Polizisten abgeschirmt,  blitzende Lamborghini, rot leuchtende Ferrari und funkelnde Harleys hinter riesigen Schaufenstern, Schaulaufen der Schönen und Reichen zwischen Gucci, Prada, Zegna und Armani. Auch vor den Toren der Villen stehen Polizei-Autos und wenn einer der Bonzen in seinem Maserati oder der Mercedes-Stretch-Limousine auftaucht, verschaffen sie ihm rücksichtslos Vorfahrt.
Spätestens ein paar Kilometer weiter stadteinwärts ist es dann auch für ihn aus mit der freien Fahrt. Dann hat der Chauffeur vielleicht Zeit, in der Prawda über neue Pläne Luschkows zu lesen, den Moskauer Verkehrsinfarkt doch noch zu verhindern.
Übrigens: Nach einer rasanten Aufholjagd etwa 15 Kilometer vor dem Flughafen hat Pawel uns gerade noch rechtzeitig abgeliefert, fünf Minuten vor der Schalter zumachte.
 
   
     

 

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