Alles andere als märchenhaft ist die Situation der Prinzessin, einer alternden Prostituierten, die für einen abgehalfterten und deswegen umso gefährlicheren Unterweltboss die Scheherazade spielt. Natürlich heißt das heruntergekommene Hotel „Palace“ und der fette Gangster fühlt sich bei der armseligen Nutte als König. Doch für tausendundeine Nacht haben die beiden keine Zeit. „Zehnundeine Nacht“ heißt der Episodenroman von Charles Lewinsky, in dem die „Prinzessin“ ihrem „König“ eben zehnundeine Geschichte erzählt.
Sie handeln wie alle guten Märchen von der Liebe, vom Leben und vom Tod, von Gaunereien, Verlust und Trauer. Manche der Motive sind wohl bekannt, das vom zweiköpfigen Mann etwa, oder das vom Toten, der nicht weiß, dass er schon gestorben ist. Das vom Flaschengeist, von dessen Segnungen ein Dritter profitiert oder das von dem Mann der Zukunft, den die Bürokratie aussortiert hat. Oft geht es um die austauschbare Identität wie in der ersten Geschichte, in der ein geretteter Selbstmörder sich in das Leben seines Retters einschleicht oder in der Erzählung vom Reliquienverkäufer, der selbst zur Reliquie wird. Auch wenn die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit verwischen wie in der Geschichte von den erdichteten Leben oder der vom unglücklichen Zauberer: Immer sind es kleine, kluge Märchen für Leute von heute, die die „Prinzessin“ ihrem Kunden erzählt, so fein gesponnen, dass sie manchmal sogar dem engstirnigen Zuhörer die Stimme verschlagen.
In den Dialogen, die Lewinsky geschickt in die Geschichten eingebaut hat, nehmen die schlaue Erzählerin und ihr ekelhafter Kunde Gestalt an und tauschen schließlich selbst die Rollen. Viel zu früh. Denn dieser modernen Scheherazade und ihrem prolligen Pascha hätte man auch Hundertundeine Nacht zugehört, ohne Langeweile zu empfinden. Schade, dass Lewinsky seiner weisen Märchenerzählerin nur so einen kurzen Atem gönnte.
Info: Charles Lewinsky, Zehnundeine Nacht, Nagel & Kimche, 17,90 Euro