„Manchmal jedoch überfiel ihn von einem Moment auf den anderen ein Gefühl grenzenloser Dankbarkeit. Es kam jedes Mal absolut überraschend. An diesem Abend sprang es ihn auf der Treppe kurz vor seiner Wohnung an. Er war gesund, er hielt sich weder für verrückt noch für gewalttätig, er hatte eine Frau, die er abgöttisch liebte, und zwei Kinder, in die er jede Hoffnung auf Glück in diesem Leben investiert hatte. Unglück und Schmerz, Entbehrungen und Krankheit waren bis jetzt nicht in den Feuerkreis eingedrungen, den er sich gern als Schutz rund um seine Familie vorstellte.“
Ja, er ist schon ein Glückspilz, dieser Guido Brunetti, den Donna Leon in die Welt geschickt hat, damit er ihr zeige, wie schön und wie verloren Venedig ist und wie schlecht es um Italien bestellt ist. Für „Reiches Erbe: Commissario Brunettis zwanzigster Fall“ trifft das besonders zu. Eher eine gesellschaftliche Analyse denn ein Krimi, enthält der Roman alles, was der Amerikanerin Leon, die in Venedig ihre Wahlheimat gefunden hat, wichtig ist. Zwar gibt es auch hier am Anfang eine Leiche, bei der Brunetti hartnäckig an einer Gewalttat festhält -obwohl der Pathologe Herzversagen konstatiert hat. Mit dem getreuen Vianello macht sich der Commissario auf Spurensuche – und wird fündig.
Die Tote hatte sich ehrenamtlich betätigt, bei einem Verein für misshandelte Frauen, denen sie hie und da Obdach gewährte und in einem Seniorenheim, wo sie hin und wieder den alten Leuten Gesellschaft leistete. Brunetti vermutet den Angreifer oder die Angreiferin bei einer der beiden Organisationen. Mit Hilfe der ebenso schönen wie schlauen Signorina Elettra kommt er auf verschlungenen Wegen einer Verschwörung in grauer Vorzeit auf die Spur, der letztendlich auch die alte Dame zum Opfer fiel. Geiz und Gier waren die Antreiber und es gab einige Leichen im Keller. Am Ende weiß der Commissario zwar über die Zusammenhänge, steht aber trotzdem mit leeren Händen da.
Vieles ist langatmig in diesem Roman, vieles ausufernd beschrieben und manche Schlussfolgerung nicht ganz nachvollziehbar. Aber Donna Leons kritischer Blick auf die italienischen Verhältnisse versöhnt ebenso mit manchen Längen wie die Sympathie, die man als langjähriger Leser für diesen Guido Brunetti hegt – und für den morbiden Charme Venedigs. Bleibt zu hoffen, dass des Commissarios überfallartige Dankbarkeit nicht ein schlechtes Omen ist und der familiäre Feuerkreis auch im 21. Fall noch hält…
Info: Donna Leon, Reiches Erbe – Commissario Brunettis zwanzigster Fall, Diogenes, 317 S., 22,90 Euro.