Lebenslinien: Kathrin Gerlofs „Alle Zeit“

Das Mädchen mit den grünen Haaren ist Mutter geworden, ohne es zu wollen. Aber ihrer Tochter will sie die Mutter sein, die sie nicht hatte. Ein Unfall hat ihr Mutter und Großmutter gestohlen. Im Park trifft sie eine alte Frau, die dabei ist, ihr Gedächtnis zu verlieren und findet sich von ihr merkwürdig angezogen.

Kathrin Gerlof verknüpft in ihrem Roman „Alle Zeit“ die losen
Lebenslinien von fünf Frauen und ortet ihre Schicksale in der deutschen
Geschichte und Gegenwart. Klara, die Alte, trägt schwer an ihrer
Vergangenheit als Ehefrau eines Nazis, als Russenflittchen, Verräterin,
Rabenmutter. Dass ausgerechnet sie mit dem alten Juden Aaron eine späte
Liebe erlebt, scheint eine Ironie der Geschichte. Gerlof schildert
diese in Demenz versinkende Altersliebe ohne Tabu und ganz ohne Pathos .
Die fehlenden Kettenglieder zwischen Klara und Juli sind Elisa, Julis
Mutter, und Henriette, die Großmutter und Klaras Tochter. Beide driften
durch ein Leben, das sie nicht verstehen. Ihnen fehlt der zupackende
Realitätssinn Klaras, die alles dem Überleben geopfert hat – letztlich
auch die Tochter und die Enkelin. Ob es über die Generationen hinweg zu
einer Versöhnung kommt, lässt Gerlofs schmaler Roman offen.
Mit der fein ziselierten Sprache und den ebenso sperrigen wie
berührenden Charakteren ist dieses Buch eine großartige Entdeckung.
Lilo Solcher
Info: Kathrin Gerlof, Alle Zeit, Aufbau, 229 S. , 18,95 Euro

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