Kreislauf in den Dolomiten

Wissen Sie, wie viel 23 Liter sind? Eine ganze Menge, denkt man an Milch, Bier oder Wasser. Aber ganz schön wenig, wenn es um die Füllung eines Rucksacks geht. Drei Tage wollen wir auf Skiern in den Dolomiten unterwegs sein und zwei Nächte auf Hütten verbringen. Möglichst geländegängig soll der Rucksack sein. 23 Liter also.Schon das Packen wird zur logistischen Herausforderung: Soll die Kamera mit oder pack‘ ich doch besser die festen Schuhe ein? Der dicke Pulli verdrängt den Schlafanzug und statt der zweiten Mütze wandern die Socken zum Wechseln in den Rucksack. Noch eine Hose für den Abend, die Schneebrille, den Schal. Der Rucksack platzt aus allen Nähten. Jetzt noch das Waschzeug, total abgespeckt. Mehr geht nicht. Oder doch? Iris hat es glatt geschafft, noch den Föhn einzupacken und Stefan will nicht auf das Handy-Ladegerät verzichten.
Auf der Las Vegas Hütte braucht man keinen Föhn, der ist im komfortablen Zimmer ebenso vorhanden wie Seife und Badezusatz. Und das Bad in der Eckwanne mit Blick auf die Berge, die sich im Sonnenuntergang röten, ist ein Genuss-Gipfel an diesem an Höhepunkten nicht gerade armen Tag. 30 Pistenkilometer haben wir hinter uns gebracht und dabei unzählige „Beförderungsanlagen” in der grenzüberschreitenden Skischaukel von Dolomiti Superski genutzt: Gondeln und Sessellifte, Rolltreppen und Förderbänder, einen Zauberteppich und eine Art U-Bahn. Ein paar Meter sind wir sogar gelaufen und immer hatten wir ein Panorama vor Augen, als hätte der Filmvorführer die Großleinwand aufgezogen mit blauem Himmel, Sonnenschein und Glitzerschnee auf den Dolomitennadeln.
Von der Seiser Alm, einer Art Logenplatz mit Blick auf den Schlern, der wie ein abgebrochener Zahn in den Himmel ragt, schaukelten wir nach Sankt Ulrich in Gröden ­ eíne Art St. Moritz der Dolomiten mit bonbonfarbenen Hotels, die sich Resorts nennen, mit teuren VGeschäften und Fußgängerzonen, in denen bildschöne Italienerinnen ihre Pelze spazieren führen, während die Skifahrer mit geschulteren Skiern zu den Rolltreppen streben. So wird der Weg zur Gondel zur Seceda zum Katzensprung und nach einer Kaffeepause ist die lange Abfahrt über den Col Raiser ein Hochgenuss. Weiter geht’s unterirdisch ­ der Val Gardena-Ronda-Express verbindet über 1200 Meter die eine Talseite mit der anderen ­ eine Art Dolomiten-U-Bahn. Kabinenbahn, Sessellift, Gondeln. Rote Pisten und blaue, ganz selten auch eine schwarze wie die vom Ciampinoi hinunter nach Wolkenstein. Dazwischen ein reichhaltiges Hüttenmenü im Rifugio Soraghes.
Die Beine werden allmählich schwer, der Rucksack drückt und das Ziel ist nahe. Seit Dezember hat die neue Lodge auf dem Gelände der alten Las Vegas Hütte geöffnet, helles Holz, minimalistisches Design, viel Licht durch mannshohe Fenster. Hier hängen keine Bilder an den Wänden, die Landschaft im Fensterrahmen wird zur Kunst. Und beim feinen Abendessen lassen wir den Tag noch einmal an uns vorüberziehen.
Auch am nächsten Tag sind wir ordentlich unterwegs und der Höhepunkt steht schon fest: die Marmolada, mit 3250 Metern auch höchster Punkt der Dolomiten, lockt mit einer zwölf Kilometer langen Abfahrt. Das dritte und letzte Teilstück der neuen Seilbahn wurde erst im Dezember eröffnet. Jetzt geht’s rasant hinauf in die atemberaubende Höhe und beim Anblick der umstehenden Gipfel bleibt mir die Luft weg. Drunten dann an den hohen Eisfelsen bei Sottoguda, wo der Wasserfall zu bläulich schimmernden Eiszapfen gefroren ist, tut eine Verschnaufpause gut. Auch die kurze Fahrt mit dem Bus nach Alleghe ist eine willkommene Erholung. Civetta, Pelmo, Cinque Torri ­ mal massiv, mal wild zerklüftet schinden die Dolomitengipfel Eindruck, lenken immer wieder von der Piste ab und fordern eine Rast ein. In der Col dei Baldi Hütte etwa werden Augen- und Gaumenschmaus eins.
Schwindel erregend hängt die Kabinenbahn in den Felsen des 27758 Meter hohen Lagazuoi-Massivs. Zwischen den scharfen Dolomitenzacken hatten sich im ersten Weltkrieg die österreichischen Kaiserjäger eingegraben. Ein alter Stollen lässt ahnen, welchen Strapazen die Soldaten in diesen unwirtlichen Felsen ausgesetzt waren ­ auch ohne Maschinengewehr-Feuer der Gegner. 180\x0e000 ließen an der Dolomiten-Front ihr Leben, 120\x0e000 wurden ein Opfer der Berge. Kälte, Steinschlag, Höhenkoller. Ich habe schon Mühe, meine Skier die paar Meter bis zur Hütte hoch zu schleppen und die grandiose Aussicht auf die steil abfallenden Felsen ringsum raubt mir vollends den Atem. Die Zimmer sind gemütlich rustikal, die Duschen im Keller bei den Matrazenlagern. In der Stube wird geschmaust und gesungen. So richtig Bettschwer ist keiner.
Am nächsten Morgen treibt mich die Höhe früh aus den Federn, die Sonne geht in einem impressionistischen Farbenmeer auf. Ein kalter Tag zieht herauf und jetzt bin ich froh um den dicken Pulli im Rucksack. Die Lagazuoi -Piste durch den „Grand Canyon der Dolomiten” ist noch jungfräulich. Durch die hohen Felswände schwingen wir hinunter nach Armenterola. Über das flache Teilstück helfen uns zwei PS: der alte Carlo betreibt mit seinen Pferden Luzy und Joyce eine Art Pferdelift und wir hängen alle an einem Seil. Zurück zur Seiser Alm geht’s dann wieder mit den üblichen Liften und die schwarze Piste der Saslong fordert noch einmal ordentliches Stehvermögen. Wir stärken uns für die letzten Pistenkilometer in der behaglichen Sofi Hütte auf der Seceda ­ und dann sind wir zurück auf der Seiser Alm und im neuzeitlichen Luxus mit Wellnessoase im Hotel Steger-Dellai.
Wahrscheinlich hätte sich die ehemalige Besitzerin Paula Wiesinger nicht mit unseren rund 90 Pistenkilometern in drei Tagen begnügt, zumindest nicht, wenn sie so komfortable Aufstiegsanlagen gehabt hätte. Die 1907 geborene Rennläuferin hatte in sieben Jahren 20 italienische Meistertitel geholt und sie hat in mehreren Film Leni Riefenstahl gedoubelt. Zusammen mit ihrem Mann hat „La Paula” aus dem Schutzhaus Dellai ein Hotel gemacht, in dem sich Schauspielerin Senta Berger ebenso wohl fühlt wie Steuerprofessor Paul Kirchhoff. Die Luxussanierung 2000 bekam die alte Dame gerade noch mit, 2001 starb sie im Alter von 93 Jahren.
Vom Hotel aus ist’s ein Spaziergang zur Gostner Schwaige, der „wahrscheinlich besten Almhütte der Alpen”, wie ein Kritiker lobt. In der winzigen Küche der kleinen Hütte verzaubert der 25-jährige Franz Mulser bodenständige Gerichte zu raffinierten Leckerbissen. Die Heublütensuppe im duftenden Almheubett oder das lauwarme Kalbszüngerl im Kernölsud mit Gemüsestreifen schmeicheln selbst dem verwöhntesten Gaumen. Kein Wunder, hat doch der Seiser Bauernsohn unter anderem bei Hans Haas im Münchner Tantris gelernt.
Im Zimmer steht der Rucksack, leer und traurig wie ein ausgedienter Begleiter. Ich habe mich an ihn gewöhnt, fühle mich fast unvollständig ohne ihn. Aber dann denke ich an all die Sesselliftfahrten, bei denen ich mir vorkam, als hätte ich einen Buckel und das Gefühl nicht los wurde, ich würde gleich kopfüber aus dem Sessel fallen. So wie der Hans, als ihm ein unachtsamer Mitfahrer den Bügel auf den Kopf haute. Oder wie Helmut, der den Rucksack abnahm und sich mit den Riemen im Sitz verfing. Trotzdem­ praktisch ist so ein Rucksack schon. Bei der nächsten Tour nehme ich ihn wieder mit. Versprochen.

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