Helmpflicht für Ho Tschi Minhs Erben

Angh muss mal wieder telefonieren. Seine Frau bekommt im nächsten Monat ein Baby, ihr erstes, ein Mädchen und der 32-jährige Guide freut sich schon riesig auf den Familienzuwachs. Für seine Tochter erwartet der studierte Lehrer eine rosige Zukunft. Denn Vietnam ist auf dem Sprung vom kommunistischen Musterschüler zum Turbo-Kapitalisten. Der neue Tiger im ehemaligen  Indochina. Das Land häutet sich in geradezu atemberaubendem Tempo. Vergessen der Alptraum des Krieges, dessen Hinterlassenschaften wie das Tunnelsystem von Cu Chi nach Kapitalistenart geschickt vermarktet werden. Der amerikanische Erzfeind ist auch im Norden wieder da mit einer Vorhut von Kentucky Fried Chicken und Starbucks. Investoren aus aller Welt sind willkommen – wenn sie genügend Geld mitbringen.

Doi Moi nennt sich die vietnamesische Variante des Wirtschaftswunders. „Jeder ist für sich selbst verantwortlich“, erklärt Angh und das sei auf jeden Fall viel besser als die sozialistische Coupon-Wirtschaft. Eine sprunghaft wachsende Mittelschicht leistet sich teure Wohnungen in den städtischen Randbezirken. In Hanoi ist der Boden schon fast mit Gold aufzuwiegen. 20 000 Dollar, mutmaßt Ang, kostet der Quadratmeter in der Innenstadt. Der Bauboom frisst das Land: Reisfelder werden aufgefüllt, um Hotelkomplexe hochzuziehen, Gewerbeparks entstehen, Appartementsilos, Autobahnen. Die Infrastruktur hält mit dem rasanten Wandel längst nicht Schritt. Über die schmalen, mit Schlaglöchern übersäten  Landstraßen wälzen sich Kolonnen von schweren Lastwagen, durch die sich wagemutig ganze Horden von Zweirädern schlängeln.
Doch hier oben in der Halong-Bucht ist alles anders. Das Weltkulturerbe soll zum Markenzeichen werden. Schon verbindet die spektakuläre neue Bat-Chay-Brücke die zwei Teile der 500 000-Einwohner-Stadt. Riesenhotels im sterilen chinesischen Stil stehen am breiten Boulevard Spalier. Die Straße ist so leer, dass man sie im Schlaf überqueren kann und auf der ausladenden Uferpromenade verlieren sich ein paar verzückte Touristen. In der Bucht dümpeln die berühmten Dschunken, die man von Bildbänden und Fernsehfilmen her kennt – allerdings ohne die charakteristischen roten Segel. „Die werden nur für Fototermine aufgezogen“,  dämpft Angh jede Hoffnung auf eine Bilderbuchidylle. Doch auch ohne die Segel macht die Halong Bucht dem Titel Weltkulturerbe alle Ehre.
Vor dem babyblauen Himmel schieben sich grün überwucherte Felsen aus dem glitzernden Meer wie Märchengestalten: Schildkröte, Hund, Löwe, Troll, Tiger, Drachenschwanz. Drachen waren es auch, die der märchenhaften Bucht ihren Namen gaben: Bucht der herabsteigenden Drachen. „Vor langer, langer Zeit“, erzählt Angh, „wurden die Vietnamesen von Feinden attackiert. Da schickte Gott Drachen, um die Invasoren zu bekämpfen. Sie spuckten nicht Feuer, sondern Perlen, die sich alsbald zu Felsen zusammenfügten und den bedrängten Vietnamesen dabei halfen, ihre Feinde zu vertreiben. Die Drachen aber blieben.“ Noch heute sehen sich die Vietnamesen als Kinder der Drachen und deshalb hat jede Dschunke vorne einen Drachenkopf – auch wenn nicht mehr unter Segeln, sondern mit Motor gefahren wird.
Wie Drachenzähne wirken die senkrecht aufragenden Wände im blaugrünen Wasser. Am Horizont geben bizarre Felsformationen im Himmelsblau ein Schattentheater. Hie und da ein Vogel oder ein Schmetterling, ein Kormoran hält nach Fischen Ausschau, ein Fischerboot legt an einer Touristendschunke an. Es ist still, als halte die Welt ob all dieser Schönheit den Atem an.
Nur kurz allerdings, denn vor der „himmlischen Höhle“,  1993 per Zufall von einem Fischer entdeckt, drängen sich die Boote wie Mopeds im französischen Viertel von Hanoi. Gleich mehrere Chinesengruppen sind mit ihren Lautsprechern unterwegs und machen in der Tropfsteinhöhle ein Höllenspektakel. Im Hotel ist es dann am Abend umso ruhiger, fast schon trostlos. In der Lobby langweilen sich die Angestellten, eine Musikgruppe fiedelt sich einen ab, gähnende Leere auch im Bahnhofshallen großen Restaurant. Doch am frühen Morgen lärmt schon eine koreanische Gruppe beim Frühstück. Also gibt es doch noch Gäste in diesem seelenlosen Prunkbau.
Die Märchenlandschaft der Bucht versteckt sich noch hinter einem Wolkenschleier, als Toan, der Fahrer, Kurs nimmt Richtung Hanoi. Schüler in weiß-blauer Uniform und Schülerinnen in traditionellen weißen Kleidern überfluten auf ihren Mopeds und Rädern die Straße. Um 6.30 Uhr fängt der Unterricht an – und in Vietnam herrscht Schulpflicht.
Angh hatte eigentlich fürs Lehramt studiert, angesichts des dürftigen Lohns aber auf Touristenführer umgesattelt. 150 Dollar bekommt ein Lehrer monatlich. Zu wenig, weiß der werdende Familienvater. Denn „das meiste Geld verdienen die Lehrer nebenher, weil die Eltern alles tun, um ihre Kinder gut betreut zu wissen.“ Ähnliches gelte für die Ärzte. Auch Polizisten hielten gerne die Hand auf. „Wir brauchen noch Zeit, um besser zu werden“, räumt Angh ein, während Toan den Wagen unbeirrt durch die oft fünfreihig fahrenden Schüler und die vereinzelten Lastwagen steuert. Fahrer in Vietnam sind die reinsten Überlebenskünstler. Im täglichen Irrsinn des Straßenverkehrs, der alljährlich 11 000 Tote fordert, müssen sie kühlen Kopf bewahren. Denn an Verkehrsregeln hält sich kaum jemand. Auch hier gilt Doi Moi: jeder schaut, dass er vorankommt. Gegen die Einfallsstraßen von Hanoi ist die berüchtigte A8 zwischen Stuttgart und München geradezu eine Idylle. Mopeds und Motorroller überholen von links und rechts oder kommen auf der Fahrbahn entgegen. Fußgänger überqueren seelenruhig die Autobahn und klettern über die Betonbarriere auf dem Mittelstreifen. Radfahrer – oft mit doppelter Besetzung – schwanken von einer Spur in die andere. Lastwagen und Busse bahnen sich hupend ihren Weg und am Kreisverkehr ist das Chaos dann perfekt. Ein Wunder, dass trotzdem alle ans Ziel kommen. Oder einfach nur eine Frage der Mentalität. Kein Geschimpfe, keine Flüche oder Verwünschungen. Auch diese alltägliche Geduldsprüfung überstehen die Vietnamesen mit einem Lächeln.
Doch das Lächeln täuscht. Dahinter verbirgt sich ein zäher Wille – das mussten schon die Amerikaner erfahren – und ein brennender Ehrgeiz. Ho Tschi Minhs Erben wollen den Anschluss an den Weltmarkt und selbst dabei reich werden. Was hätte wohl Onkel Ho, wie die Vietnamesen heute noch liebevoll den Vater der vietnamesischen Wiedervereinigung nennen, zu der Entwicklung gesagt? Einbalsamiert im Mausoleum muss der Revolutionär auch das stoisch über sich ergehen lassen. So, wie der Tote auch den Führerkult über sich ergehen lassen musste, den er als Lebender immer abgelehnt hat. Verbrannt wollte er werden, hatte Ho Tschi Minh in seinem Testament verfügt. Und seine Asche sollte im Norden, in der Mitte und im Süden des Landes verstreut werden, um die Einheit zu dokumentieren. Statt dessen ein lebender Leichnam im Beton-Mausoleum und eine Kultstätte nach Art der früheren Kaiser. „Sie brauchen ihn als Symbolfigur“, flüstert Angh. Eigentlich könne sich das vietnamesische Volk die Kosten für den Erhalt des teuren Toten gar nicht leisten. Derzeit steht das Mausoleum leer. Onkel Ho ist ausgeflogen – nach Russland, mutmaßt Angh, wo man mit einbalsamierten Helden Erfahrung habe. Jetzt ist das leere Mausoleum von Menschenmassen umlagert,   ein unendlicher Strom bewegt sich durch den Bezirk, wo Ho Tschi Minh gelebt hat. Zuerst im protzigen Palast des französischen Gouverneurs und dann im kleinen Haus am See, das der Revolutionsführer für sich bauen ließ und wo er als guter Onkel gern Kinder empfangen haben soll.
Und Kinder gibt es reichlich im Vietnam von heute. 50 Prozent der 84 Millionen Vietnamesen sind jünger als 20 Jahre. Um das ungebremste Bevölkerungswachstum zu stoppen, propagiert die Regierung die Zwei-Kinder-Familie. Nicht nur deshalb gehört das Land zu den Staaten mit der höchsten Abtreibungsquote. In der immer noch tief religiösen Gesellschaft sind ledige Kinder ein Fluch ebenso übrigens wie Aids. Das führt dazu, dass die meisten jungen Mädchen als einzigen Ausweg die Abtreibung sehen. Oder die Adoption, mit der in Vietnam ein schwunghafter Handel getrieben wird. Vor allem Amerikaner holen sich gerne einen kleinen Vietnamesen ins Haus. Die vielen ungewollten Schwangerschaften sind Folge der mangelnden Aufklärung. „In Vietnam reden wir nicht über Sex. Wir haben ihn“, sagt Angh und deutet auf ein Ngha Nghi, ein guest house der besonderen Art. „Hierher kommen Pärchen, um für ein paar Dollar eine oder zwei Stunden ungestörte Intimität zu genießen“, klärt der jung verheiratete Guide auf.
Denn zu Hause muss man dicht zusammenrücken. Nicht nur im French Quarter von Hanoi, wo die Straßen eng und die Häuser schmal sind wie ein Tischläufer. Ganze Großfamilien teilen sich zwei Zimmer mit dem geliebten Zweirad, das nachts ins Haus gerollt wird. So ein Gefährt ist in den Gassen der Altstadt Gold wert. Es transportiert stapelweise Stühle und Kloschüsseln, Betten und Schränke, lange Leitern und Käfige mit Schweinen, einen Blumenladen und Familien mit Kind und Kegel. Vom Motorrad aus kann man BH’s verkaufen und Süßigkeiten, Gemüse und Früchte. Und wenn es steht, kann man an den Lenker als Wäscheständer umfunktionieren. Zwischen den allgegenwärtigen Rollern, die in Hanoi die seltenen Gehsteige versperren, leben die Familien. Hier wird gekocht und gegessen, gewaschen und entlaust, gespielt und geschlafen. Und am Abend fährt man schon mal im Nachthemd oder im Pyjama zum schnellen Einkauf auf den Markt.
Allerdings nicht ohne Mundschutz. Der ist in Vietnam allgegenwärtig. Vor allem die Vietnamesinnen verbergen ihr Gesicht hinter dem modischen Accessoire. Nicht wegen der Vogelgrippe, auch nicht, weil sie einen Banküberfall planen und schon gar nicht aus Glaubensgründen. Nein, der Schönheit wegen. „Sie wollen eine möglichst weiße Haut haben“, erklärt Angh. „Genau das Gegenteil zu den Touristen, die braun werden wollen.“ Und so sieht man überall junge Frauen, die Gesichter hinter Mundtuch und Sonnenbrille verborgen und die Hände in armlangen Handschuhen. Über der Kappe oder dem Hut thront dann nicht selten noch ein Helm. Denn wegen der vielen Unfalltoten droht ab Dezember eine Helmpflicht. Angh hat schon einen gekauft. Schließlich will er seiner Familie noch lange erhalten bleiben.  

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