„Flucht, dachte Salman, ist wie ein Schicksal, wie ein Omen, und stetiger Begleiter der arabischen Kultur. Flucht ist Neubeginn, ist Hoffnung. Sie ist Klugheit, und Klugheit wird oft als Feigheit verstanden.“
Das schreibt einer, der vor 40 Jahren selbst sein Land verlassen hat. Das Land, aus dem jetzt wieder Millionen fliehen: Syrien. Rafik Schami, der große Erzähler, der in Heidelberg studiert hat und in Deutschland als Geschichtenerzähler und Romancier bekannt geworden ist. In seinem neuen Roman „Sophia oder der Anfang aller Geschichten“ lässt er den Syrer Salman nach 40 Jahren zurückkehren an die Stätten seiner Kindheit. 2012, zu einer Zeit, da Syrien noch nicht vom Bürgerkrieg zerrissen, da die Städte noch nicht von Assads Fassbomben zerstört und von den Terrortrupps des IS verheert waren.
„Mich interessiert nicht die Revolution,“ sagte Rafik Schami, als er zu einer Lesung nach Augsburg kam. „Mich interessiert die Zeit davor, wenn die Realität Risse bekommt.“
Auch wenn er schon lange nicht mehr in Syrien war – eine Einladung Assads hat er vor Jahren abgelehnt, Rafik Schami kennt seine Heimat, kennt die unterschwelligen Ängste, die Diktatur, die tief in den Alltag eingreift:
„In jenem Augenblick erkannt ich (ein ehemaliger Mitkämpfer Salmans), dass es in Syrien zwei Ebenen gibt. An der Oberfläche herrscht Frieden, und nicht nur Touristen halten das Land für ein Paradies, sondern auch die Syrer, solange sie die zweite Ebene nicht kennen. Unter Damaskus liegt eine ganze Höllenstadt.“
Gegen das Vergessen hilft das Erzählen, ist die Devise des Rafik Schami. Deshalb schreibt und erzählt er rastlos, kehrt in seiner Fantasie heim in die Gassen von Damaskus, wo er im christlichen Viertel aufwuchs und lässt seine Charaktere in Städten leben, die im Bombenhagel untergegangen sind. Auch der 69-jährige Schami hat noch längst nicht abgeschlossen mit seiner Heimat.
„Vertriebene tragen eine verletzte Seele in sich, und jeder Gedanke an die Heimat wirkt wie Salz auf die offene Wunde.“
Umso mehr, als diese Heimat im Bombenhagel unterzugehen droht. Voll Trauer schaut der Erzähler nach Syrien, das die Sippe der Assads in Geiselhaft zu halten scheint. Schon der Vater des heutigen Diktators, der als Luftwaffenoffizier zum „unheimlichen Herrscher des Landes“ aufgestiegen war, hatte Tausende seiner Landsleute ermorden lassen. Skrupellos opfert auch der studierte Augenarzt Baschar Unschuldige seinem Machterhalt. Und Schami hat Sorgen, dass sich so schnell nichts ändern wird in seinem Heimatland und – in den Nachbarländern, trotz des arabischen Frühlings, der längst in einen Winter gemündet ist.
„In den arabischen Ländern wird es kein Veränderung geben, solange nicht die Struktur der Sippe zerschlagen wird, die uns körperlich und geistig versklavt. Die Sippe baut auf Gehorsam und Loyalität auf und pfeift auf Demokratie, Freiheit oder die Würde des Menschen. Sie durchdringt und zersetzt alles wie ein Pilz.“
Loyalität um jeden Preis, damit fange das Problem der arabischen Gesellschaft an. Die Gesetze der Sippe stünden über dem Staat: „Wir müssen uns von dieser Sippe befreien. Das gilt auch für die Assads.“
Dafür kämpf Rafik Schami auf seine Weise, erzählend. Die Lust am Erzählen hat er wohl schon als Kind in den Straßen von Damaskus aufgesogen. Und wie es die Märchenerzähler in alten Zeiten taten, so webt auch er einen großen Erzählteppich aus vielen Mustern, die er übereinander legt. Das gilt auch für seinen Roman „Sophia oder der Anfang von allem“. Als Leser würde man sich ein Beiblatt wünschen mit allen handelnden Personen, um dem oft mäandernden Erzählfluss folgen zu können.
Doch wenn Rafik Schami auf der Bühne steht wie in Augsburg, wenn er von der klugen Sophia und dem mutigen Karim erzählt, von Salman, der nach 40 Jahren die Orte seine Kindheit wiedersehen will und die Nostalgiereise fast mit dem Tod bezahlt, folgt man problemlos auch den labyrinthischen Gedankengängen. Getragen von der warmen Erzählstimme wird vieles stimmig, was im Buch verwirrt. „Hier bin ich der Erzähler“, sagt Rafik Schami mittendrin im Erzählfluss, und verrät, dass er im Buch hin und wieder Rücksicht auf die Lektoren und Kritiker nehme.
In Augsburg aber führt der Erzähler Regie und lässt sich vom Applaus beflügeln zu immer neuen Gustostückchen wie der Frage, warum 300 Millionen Araber es nicht geschafft haben, einen Krimi zu schreiben, während zehn Millionen Schweden die Welt mit ihren Krimis faszinieren. „Weil es kein Kommissar wagen würde, bestimmte Kreise zu verhören – und eine Kommissarin schon gar nicht.“ Wo andere Autoren sich am Text ihres Werkes festklammern, lässt der promovierte Chemiker seine Zuhörer teilhaben an seinen Gedanken über den Menschen und seine Erinnerungen: „Die Zeit läuft wie ein Akkordeon,“ sagt er, oder „Das Gedächtnis ist eine Stadt mit Gassen und Friedhöfen, mit Wirtshäusern und Gefängnissen – mit allem.“
Wehmut schwingt mit, wenn Rafik Schami vom Damaskus seiner Kindheit berichtet, in dem auch der Großteil des Buches spielt. Ein Hauch von „Es war einmal“ durchzieht den Abend, liegt doch vieles, von dem hier die Rede ist, heute in Trümmern. Die Häuser werde man wieder aufbauen, da ist sich der Deutsch-Syrer sicher. „Was mir Sorgen macht, sind die Trümmer in den Herzen der Menschen.“
Das Publikum folgt jeder seiner Gesten, lacht über die eingestreuten Episoden – und hofft, dass er das Buch zu Ende erzählt. Und der Autor tut ihm den Gefallen trotz gegenteiliger Ansage („Das erzähle ich Ihnen nicht. Das sollen Sie nachlesen“). Nach zwei Stunden hat man das Gefühl, alle Personen aus dem Buch persönlich zu kennen. Der grandiose Erzähler Rafik Schami hat sie zum Leben erweckt.
(Die eingestreuten Zitate stammen aus dem Roman „Sophia oder der Anfang aller Geschichten“, Hanser, 480 S., 24,90 Euro)