Ein Dorf mit Charakter

Auf der Speisekarte steht Kaviar, das Gramm zu 18 Franken. Mindestens zehn Gramm sollten’s schon sein. Wir sind da, wo die Deutschen gern ihr Schwarzgeld bunkern, in der Schweiz. Und da, wo die Schönen und Reichen besonders gern Urlaub machen, in Pontresina bei St. Moritz. Hier ist die Welt noch nicht von Betonbunkern und Garagen verstellt wie im größeren Nobelort. Pontresina hat sich (noch) seinen dörflichen Charakter bewahrt, auch wenn Kräne von neuen Bauvorhaben künden. Das Grand Hotel Kronenhof steht seit über 100 Jahren mittendrin in dem Engadiner Örtchen und ist längst Teil der Geschichte.

Hotelier Heinz Hunkeler (36), der mit den zurück gegelten Haaren und dem
adretten Auftreten ein bisschen wie der ältere Bruder des deutschen
Verteidigungsminister wirkt, kennt jeden Winkel des weitläufigen
Traditionshauses mit der Krone auf dem Dach. Treppauf, treppab eilt der
agile Hotelier, um seine Schätze zu zeigen: schöne, alte Engadiner
Bücherschränke, Sekretäre aus der Biedermeierzeit, Tische mit Intarsien,
geschnitzte Türen, Porträts in Öl. Im alten Haus knarren die Treppen
unter seinen forschen Schritten. Die Zimmer und Suiten hier sind eine
gelungene Symbiose von alt und neu, teilweise mit spitzgiebeligen
Fenstern. Welch ein Glück, dass in den 60iger und 70iger Jahren „das
Geld für Bausünden“ fehlte, wie Hunkeler berichtet.
Aus dem Dornröschenschlaf weckten das Traditionshotel vor fünf Jahren
die Söhne des griechischen Reeders Stavros Niarchos, der bis zu seinem
Tod 1996 als König von St. Moritz galt. Der reiche Grieche half, das
traditionsreiche Kulm vor dem Zugriff des Club Med zu bewahren und war
Geldgeber für die Bahnen auf dem Corvatsch und den Piz Nair. Heute sind
seine Söhne Philip und Spyros Mehrheitsaktionäre der beiden
Bahngesellschaften und des Kulm Hotels. Vor fünf Jahren erwarben sie auch das
eher desolate Grand Hotel Kronenhof. „Damals wurde nichts investiert“,
erinnert sich Tina Lepperhoff, die resolute Chef-Rezeptionistin mit dem
blonden Pferdeschwanz. „Es gab nicht mal einen Locher, die Telefone
waren uralt. Dem ganzen Haus fehlte die Seele.“ Zufrieden schaut sie
sich in der prächtigen Halle um, in der es sich ganze Familien bei
Kaffee und Kuchen gemütlich gemacht haben. „Vor sieben Jahren saßen hier
vielleicht drei Leute“, sagt sie. „Das hat schon weh getan.“ Kurz bevor
sie wegen des „zerrütteten Zustands des Hotels“ kündigen wollte, kam
der Verkauf und eine spannende Zeit. 35 Millionen Euro investierten die
neuen griechischen Besitzer. Und es war nicht ein rein oberflächliches
Lifting. Ein ganzer Flügel wurde total entkernt, eine großzügige, lichte
Bade- und Wellness-Oase dazu gebaut – und das bei laufendem Betrieb.
Tina Lepperhoff wundert sich bis heute, wie reibungslos das alles
geklappt hat. Heute lebt das Haus, alte Stammgäste sind zurück gekehrt,
junge Familien neu dazu gekommen. „Die Gäste kommen ein Stück weit nach
Hause“, ist die junge Deutsche überzeugt.
Da zieht dann auch der Jungspund zum Abendessen in „einem der schönsten
Speisesäle der Welt“ (Hoteldirektor Hunkeler) fast schon
selbstverständlich ein Jackett über, „aus Respekt“. Hier, wo der Himmel
voller Feen hängt, sind diskrete Ober den Gästen zu Diensten – manche
wie der Serbe Jovan schon seit über 30 Jahren. Ein Pianist breitet
allabendlich einen harmonischen Klangteppich aus, zu dem die Gespräche
entspannt dahinplätschern. Ganz anders und eher rustikal wirkt dagegen
das mit Arvenholz getäfelte Gourmetstüberl im Engandiner Stil, wo sich
die Feinschmecker an Bernd Schützelhofers regional inspirierten
Kreationen laben. In einem Winkel lehnt noch ein uraltes Paar Skier, als
hätte es der Besitzer grade abgestellt. Auf dem Bänklein im Erker soll
die alte Patronin einst gesessen und die Ankunft der Gäste beobachtet
haben. „Den Preis hat sie dann nach dem Gepäck festgesetzt“, sagt der
Hoteldirektor lachend.
Dann eilt er zur Kegelbahn, auch sie ein Relikt aus alten Zeiten und die
einzige in einem Grandhotel, ehe er die Tür zum Allerheiligsten
aufschließt, dem Weinkeller, Keimzelle des Hauses. Die Gründerfamilie
Gredig war 1848 nach Pontresina gekommen und hatte mit dem Import von
Wein aus dem Veltlin den Grundstock gelegt. Die Weinhandlung richtete
Lorenz Gredig im Keller des Wirtshauses Rössli ein, das er 1851 als
„Gasthaus zur Krone-Post“ neu eröffnete. Mit dem Tourismus wuchs auch
das Hotel und wandelte sich vom Gasthaus zum Grand-Hotel. Ende des 19.
Jahrhunderts entstand die hufeisenförmige Dreiflügelanlage mit Ehrenhof,
in der früher die Gäste in der Kutsche, heute im Mercedes, BMW oder
Porsche vorfahren. 90 Jahre später – nach dem Tod der alten Patronin –
verkaufte die Familie Gredig ihr Aushängeschild. Der Name Gredig aber
ist in Pontresina scheinbar allgegenwärtig. Es gibt eine Villa Gredig,
eine Bäckerei Gredig und das Schild mit der Weinhandlung Gredig am
Kronenstüble
.
„Ja, ja, die Gredigs und die Saratz, denen gehört doch halb Pontresina“,
weiß Ernst Amacher (86), der 25 Jahre lang Standesbeamter war und auch
Gäste durch das Dorf führte. „20 Jahre bin ich schon a.D.“, sagt der
alte Mann mit der grauen Haarmähne und einem Gesicht wie braunes Leder.
Er sitzt auf dem Sofa mit der bunten Häkeldecke und schaut aus dem
Wohnzimmerfenster hinaus auf den Ort, in den er aus dem nahen Samedan
der Liebe wegen gekommen ist. Seine Frau Irma, eine geborene Vonmoos,
wie er stolz anmerkt, stammt aus Pontresina. Viel hat sich seit seiner
Heirat „im Lawinenwinter 1951“, als der Ort unter sieben Metern Schnee
begraben lag, verändert. „1960 haben wir gebaut, damals kostete der
Quadratmeter 100 Franken. Heute sind es 1000 Franken“, erzählt Amacher
und schüttelt den Kopf. Bei den Preisen könnten Einheimische sich kaum
mehr eine Wohnung leisten. Nur die Russen, die hätten wohl noch immer
reichlich Geld.
Der Pensionist kennt die Geschichte des Ortes als wäre es seine eigene
und er hofft, dass die Verantwortlichen auch in Zukunft die Kirche im
Dorf lassen und nicht die Fehler von St. Moritz nachmachen. „In Celerina
wollten sie ein Wolkenkratzer-Hotel bauen“, sagt er. Die Gemeinde habe
es abgelehnt. In Pontresina überragt das Schlosshotel (heute im Besitz
der italienischen Tivigest-Gruppe) alle anderen Gebäude. Heute dürfte es
in dieser Höhe gar nicht mehr gebaut werden, stellt der alte Mann
befriedigt fest. Dass die Reederfamilie Niarchos im Kronenhof ordentlich
investiert hat, registriert er mit Wohlwollen. „Das tut dem Ort gut.“
Zumal der Charakter des Grand Hotels erhalten blieb. Anders als in
manchen Neubauten, die Amachers  Meinung nach den Ort verschandeln.
„Aber auf uns alte Leute hört man ja nicht mehr“, seufzt seine Frau, die
mit ihren dauergewellten braunen Haaren viel jünger wirkt als 83.
Vielleicht auch deshalb, weil sie „mit allen Heiligen per du ist“, wie
ihr Mann lächelnd verrät. Irma Amacher war lange Zeit die Hüterin des
Schlüssels zu einem der größten Schätze Pontresinas, dem Kirchlein Santa
Maria
, einstmals der Maria Magdalena geweiht. Die beiden großen Fresken
über dem Eingang lassen schon ahnen, dass diese Kapelle etwas
Besonderes ist. Drinnen öffnet sich dann ein mittelalterlicher
Bilderreigen unter einer wunderbar erhaltenen Arvendecke. Plötzlich
Licht. Irma Amacher hat den richtigen Knopf gefunden und lässt die
Bilder mit ihren leuchtenden Farben erst einmal wirken. Wie durch ein
Wunder haben die Fresken das Wüten der Reformation überstanden. „Sie
wurden mit Kalkschichten übermalt“, erklärt die frühere Organistin, „das
hat sie gerettet“. Bei der Restaurierung kamen dann unter den
farbensatten Bildern aus dem 15. Jahrhundert fast byzantinisch wirkende
spätromanische Fresken zum Vorschein mit feingliederigen, überschlanken
Gestalten. Fast liebevoll mustert Irma die Wunderwelt. Dann erzählt sie
eine Legende aus dem Leben Maria Magdalenas, die in Frankreich spielt
und von der wunderbaren Rettung einer adligen Mutter und ihres Kindes
weiß. Natürlich hat die Bilderbibel der Kapelle auch ein jüngstes
Gericht mit frohlockenden Heiligen und armen Sündern, die in der Hölle
schmoren müssen, bewacht von garstigen Teufeln mit silbrig glänzenden
Hörnern.
Den Besuchern von heute jagen sie keine Angst mehr ein. Sie kommen um zu
staunen, im Rahmen einer Ortsführung, oder auch um zu heiraten. Ernst
Amacher
denkt da an seine Zeit als Standesbeamter zurück. An die
Amerikaner, die unbedingt romantisch da heiraten wollten, „wo das Heidi
lebte“, etwa. Oder an die beiden, die einfach im Overall kamen. „Die
habe ich wieder weggeschickt, damit sie sich ordentlich anziehen. So
eine Hochzeit ist doch eine ernste Sache.“ Die Zeiten haben sich
geändert – auch in Pontresina, dem Dorf hinter den Bergen.
Vor 100 Jahren brachte die Berninabahn den Anschluss an den Tourismus.
Im kleinen Museum Alpin ist derzeit eine Jubiläumsausstellung  zum Bau
der spektakulären Bahntrasse zu sehen. In dem traditionellen Engadiner
Haus können Besucher aber auch nachempfinden, wie die Menschen in den
Bergen früher gelebt haben, ohne Strom und elektrische Heizung. Susy
Roll
, die mit ihrem Mann zusammen 20 Jahre lang ein kleines Hotel am Ort
geführt hat, und sich jetzt im Museum mit zwei Kollegen abwechselt,
öffnet eine schmale Geheimtüre hinter dem Kachelofen. Eine noch
schmalere Leiter führt hinauf in eine winzige Schlafkammer. So nutzte
man die Wärme des Tages auch für die Nacht. Eine solche Kammer ist auch
im Grandhotel Kronenhof noch erhalten – hinter einer kleinen Tür im
Gourmetrestaurant Kronenstüble. Nach einem üppigen Gourmet-Menü sollte
man aber die Leiter besser nicht testen.

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