Die Augsburger Fuggerei: Puppenstubenidylle von Bankiers Gnaden

„Groß waren die Betten damals nicht. Da konnten die Leute prima kuscheln“, tönt der grauhaarige Stadtführer und die mehrheitlich älteren Damen in seinem Gefolge kichern entzückt. Sie sind auf einer Zeitreise, haben den Straßenlärm Augsburgs hinter sich gelassen und sind durch ein Tor in eine andere Welt gekommen: Die Welt der Fuggerei, gegründet 1521  von Jakob Fugger dem Reichen für  Augsburger Bürger, die in die Armut abzugleiten drohten, eine ummauerte Puppenstubenidylle in honiggelb mit spitzen Giebeln, einer kleinen Kirche und gepflasterten Gassen. Eine Stadt in der Stadt wie aus der Zeit gefallen, wären da nicht die Bauarbeiter, die gerade Fernwärmerohre verlegen.

Denn diese älteste Sozialsiedlung der Welt ist alles andere als ein Museum, sie funktioniert heute noch genauso wie zu Zeiten ihres Gründers, dessen 550. Geburtstag in diesem Jahr groß gefeiert wird. Ein Bankier war Jakob Fugger der Reiche, das Finanzgenie der frühen Neuzeit. Er schmiedete einen internationalen Montankonzern, finanzierte Kaiser, Könige und Päpste und gilt vielen Historikern als der einflussreichste Mann seiner Zeit. Die war alles andere als heil. Die Kluft zwischen Arm und Reich war groß. „Wegen steigender Lebenshaltungskosten sanken die Reallöhne. Vormals gut situierte Handwerker wurden durch die weit höherer Produktivität großer Kapitalgesellschaften auf das Niveau von Lohnarbeitern gedrückt“, ist im Fuggerei-Museum zu lesen.
Jakob Fuggers Antwort auf die sozialen Missstände war die Fuggerei, „kein Armenhaus, sondern eine Stätte, in der die Menschen ihre Würde bewahren und ihre Privatsphäre schützen konnten“, präzisiert Sabine Darius von der Fuggerschen Stiftungsadministration und fügt bewundernd hinzu: „Ein  gigantischer Gedanke.“  Für Martin Luther, den kämpferischen Reformator, dem Macht und Reichtum der Fugger ein Dorn im Auge waren, war die Sozialsiedlung eher „ein Akt fein berechneter Wohltätigkeit“. Schließlich forderte der Gründer von seinen Schützlingen, die gerade mal einen rheinischen Gulden Jahresmiete berappen mussten – heute sind das 88 Cent – auch noch etwas anderes: „Es soll jeder Mensch, jung oder alt, so es vermag, ein Pater noster, Ave Maria und einen Glauben alle Tage sprechen für die Fundatores “, so steht es bis heute in der Hausordnung.
Zinsen in Form von Gebeten sollte dem frommen Reichen die Stiftung bringen und so seinem Seelenheil förderlich sein. Berechnend war Jakob der Reiche wohl und – wenn es um die Mehrung des Fuggerschen Wohlstandes ging – auch nicht zimperlich.  Er vernetzte Europa mit Handelsniederlassungen, schuf einen internationalen Konzern mit eigener Weltbank und beteiligte sich an der ersten Handelsfahrt nach Indien. Er handelte mit Ländern und finanzierte Kriege. Dieser Fugger, den Dürer porträtierte (ein Druck des berühmten Porträts hängt in jeder Wohnung an der Wand) war ein Mann der Renaissance, aber noch vom späten Mittelalter geprägt. Und Mildtätigkeit galt den Reichen und Mächtigen jener Zeit als Verpflichtung. „Wenn ich gut verdiene, habe ich eine Verpflichtung für die, die weniger haben“, übersetzt es Sabine Darius in die heutige Zeit. Bill Gates denke wohl so, spielt sie auf die Stiftung des heute reichsten Mannes der Welt an. Doch angesichts der horrenden Boni-Forderungen unfähiger Banker, räumt sie ein, könnte selbst eine so positiv denkende Frau wie sie den Glauben an das Soziale im Menschen verlieren.
Sozial ist die Fuggerei bis heute und das Haus Fugger fühlt sich  noch immer „durchdrungen von der Aufgabe den Stifterwillen zu erfüllen“ wie damals, im Februar 1944, als nach der schrecklichen Bombennacht zwei Drittel der Fuggerei in Schutt und Asche lagen. Schon einen Tag später kam das Familienseniorat im Bunker der Fuggerei zusammen und beschloss den Wiederaufbau. Und die Fuggerei wurde sogar noch größer, weil Trümmergrundstücke hinzugekauft und bebaut wurden. 1973 konnte das letzte wieder aufgebaute Haus übergeben werden.
Heute ist nichts mehr zu sehen von den Wunden des Krieges und die Fuggerei wirkt wie ein Renaissance-Städtchen aus einem Guss. Innen freilich sind die 67 Häuser zum großen Teil auf dem modernsten Stand. Den 150 Bewohnern,  älteren Menschen aber auch Hartz-IV-Empfängern und einer jungen Mutter mit drei Kindern, soll es an nichts fehlen. Fast alle der 65 Quadratmeter großen Zwei-Zimmerwohnungen haben inzwischen Bad oder Dusche. Mit rund 65 Euro Nebenkosten müssen die Bewohner monatlich rechnen. Eine halbe Million Euro kostet die Fugger-Nachkommen der Unterhalt der Sozialsiedlung jährlich und, wenn wieder mal eine Renovierung ansteht, wird es schnell teurer. Finanziert wird das alles durch Erträge aus den Wäldern und Immobilien, die der Stiftung gehören, aus Spenden und  – seit einigen Jahren – auch durch den Tourismus.
„Wegen der vier Euro Eintritt sind uns die Augsburger bis heute gram“, ärgert sich Sabine Darius. Dabei gäbe es auch eine Jahreskarte für fünf Euro. Und schließlich sei die Stiftung wegen der schwindenden Erträge aus den Wäldern auf die Gelder angewiesen. Bis vor zwei Jahren standen 13 Wohnungen leer, weil der Stiftung einfach die Mittel fehlten. Jetzt müsse der Renovierungsstau abgebaut werden und das summiere sich pro Einheit locker zum Preis eines Reihenhauses.  
Maria Mayer sitzt praktisch auf gepackten Kisten. Ihre jetzige Wohnung muss umfassend renoviert werden. Die resolute 67-Jährige   freut sich schon auf den Umzug. Dann wird sie da wohnen, wo auch ihr Gärtchen ist, ein „kleines Paradies“ wie sie begeistert erzählt. Und sie wird endlich ein Bad mit Heizung haben. Auch drinnen in der guten Stube, in der es mollig warm ist, hat sich Maria Mayer ihr Paradies geschaffen, mit vielen Engeln, Plüschtieren und einem Fernseher, in dem gerade eine Tiersendung läuft. Seit sechs Jahren ist die ehemalige Bedienung Fuggerei-Bewohnerin. „Ich bereue nur die Zeit davor“, sagt sie ehrlich. Das Leben hat es nicht gut gemeint mit der robusten, modisch gekleideten Frau. „Als achtes Kind hab‘ ich nichts gelernt“, erzählt sie, „dafür hat’s nicht gereicht.“ Die Mutter erblindete nach ihrer Geburt, der Vater wurde noch vor Kriegsende ermordet. „Da hieß es, von der Schule raus und gleich in die Fabrik“, erinnert sich Maria Mayer. Bis heute muss die geschiedene Mutter von zwei Töchtern immer etwas zu tun haben – am liebsten im Gärtchen. Und hin und wieder sitzt sie auch an der Kasse und verkauft Eintrittskarten für die Fuggerei an die Besucher aus aller Welt. Der liebste war ihr der frühere russische Präsident Gorbatschow. Stolz präsentiert sie ein Foto, das sie zusammen mit dem lächelnden Vater von Glasnost und Perestrojka zeigt.
Das Gefühl, in einem Museum zu leben, hat Maria Mayer trotz der vielen Besucher – 2008 waren es 180 000 – nicht. „Dann käme ich mir ja vor wie ein altes Inventar“, sagt sie und lacht. Aber das Gefühl, von der Außenwelt abgeschottet, ja beschützt zu sein, das hat sie schon. Pünktlich um 22 Uhr schließt die Fuggerei ihre Pforten. Wer nach Torschluss kommt, muss nicht draußen bleiben aber dem Pförtner fürs öffnen einen Obulus bezahlen: 50 Cent bis Mitternacht, danach einen Euro.
Ist es Nestwärme, was die Bewohner der Fuggerei empfinden? „Ja und nein“, sagt Maria Mayer zögernd. „Es gibt auch hier Menschen, die sich als was Besseres fühlen obwohl wir doch alle im gleichen Boot sitzen.“
„Es menschelt halt wie überall“, lächelt Sabine Darius und meint damit, dass es auch in den Mauern der Fuggerei Einsamkeit, Nachbarschaftsstreitigkeiten, Alkoholismus und andere Probleme gibt. Eine Sozialpädagogin kümmere sich darum, sie unterstützt auch die Bewohner mit Rat und Tat, damit sie möglichst lange in ihrer Wohnung bleiben können und hilft   bei der Suche nach einem Pflegeheim oder einem neuen Job. „Wir bieten schon so eine Art betreutes Wohnen an“, sagt   Sabine Darius, „aber vor allem Hilfe zur Selbsthilfe.“
Die Bewohner jedenfalls haben sich’s schön gemacht. Blumen stehen in den Fenstern, Blumentöpfe vor den Türen, die Vorhänge sind blütenweiß und die Türen frisch gestrichen. Vor dem Denkmal Jakob Fuggers, dem Bronzeabguss der Büste, die seit 1967 in der Walhalla steht, blühen Osterglocken und andere Frühlingsblumen in einer Schale. Eine Karte verweist auf „ die dankbaren Bewohner“. „Können Sie sich vorstellen, dass das das einzige Denkmal für Jakob Fugger in ganz Augsburg ist?“ fragt Sabine Darius mit kaum unterdrückter Empörung. Das öffentliche Fuggerdenkmal der Stadt zeigt nicht, wie die meisten Touristen denken, Jakob Fugger den Reichen, sondern Hans Jakob Fugger (1516 – 1575). Der Kunstliebhaber und Diplomat hatte in Gelddingen kein gutes Händchen, er ging in Konkurs, stieg aber in München zum Geheimen Rat und Hofkammerpräsidenten auf. Das überlebensgroße Standbild in der Augsburger Philippine-Welser-Straße stiftete Ludwig I. von Bayern 1857. Erst 150 Jahre später wurde dem spendablen Jakob Fugger in der Fuggerei ein Denkmal gesetzt.  
Eine französische Schulklasse macht sich lärmend in der „Musterwohnung“ breit, die mit Möbeln aus den 50iger Jahren ausgestattet ist wie sie kurz nach dem Wiederaufbau üblich waren. Im Museum sieht’s dagegen (fast) noch aus wie zu Gründerzeiten: die Rauchkuchel, die Holzdielen, das liebevoll bemalte Bett…  Auf dem Wohnzimmertisch liegt aufgeschlagen das Gästebuch, in dem sich Besucher aus Kolumbien und Taiwan, aus Japan und den USA, aus Chile und Moldawien verewigt haben und natürlich auch viele Deutsche. Ein Giuseppe aus München etwa hat notiert, dass er hier gerne eine WG gründen würde – wohl wegen des kuscheligen Bettes.  „Gemein, dass hier nur Katholiken wohnen dürfen“, findet ein Schreiber, dessen Unterschrift nicht lesbar ist. Isolde hat Größeres im Blick und wünscht sich: „In Zeiten der Finanzkrise sollten die Betriebsausflüge der Banker und Manager hierher führen, um festzustellen, dass man trotz Reichtum etwas Sinnvolles leisten kann.“   

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