„An den Whitshanks war nichts Bemerkenswertes. Keiner von ihnen war berühmt. Keiner von ihnen konnte außergewöhnliche Intelligenz geltend machen. Und was ihr Äußeres betraf, waren sie nicht mehr als Durchschnitt.“
Es ist aber gerade dieser Durchschnitt, der die amerikanische Autorin und Pulitzerpreisträgerin Anne Tyler interessiert. Die 73-Jährige schreibt gerne über amerikanische Vorstadtfamilien, über ihren Alltag zwischen Neurosen und Routine, über die oft nur notdürftig geflickten Risse im Zusammenleben. Auch „Der leuchtend blaue Faden“ über die nach außen hin so glücklich wirkende Familie Whitshank ist ein Mehrgenerationen-Mittelschichtsroman. Zwischen Gegenwart und Vergangenheit pendelnd erzählt Anne Tyler von Großvater Junior, dessen Lebensinhalt das großzügige Haus in der Feine-Leute-Gegend ist, das er für einen reichen Auftraggeber gebaut hat und später zum Zuhause seiner Familie macht. Von Juniors bravem Sohn Red, der in diesem Haus aufwuchs und es nach dem Unfalltod der Eltern mit seiner Familie bewohnt: Abby, die ein großes Herz für alle Nöte der Nachbarschaft hat, und die vier Kinder, unter denen Denny, Abbys Lieblingssohn, das Problemkind ist.
Mit fast schmerzhafter Genauigkeit aber auch mit viel Feingefühl und großer Zuneigung erzählt Tyler vom oft turbulenten Familienalltag, von schönen und schlimmen Erinnerungen, von Abbys allmählichem Verlöschen in der Demenz und von Familiengeheimnissen, die allzu lange unter der Decke gehalten wurden und gerade deshalb noch lange nachwirken. In manchmal herrlich skurrilen Szenen werden die Leser Zeugen von Intrigen und Kämpfen, von Missverständnissen und Lebenslügen – vom ganz normalen Wahnsinn des Zusammenlebens eben. Dass Tyler ihren Charakteren ins Herz schaut, dass sie nicht urteilt sondern mitfühlt, macht die Dialoge und Monologe herzzerreißend authentisch. Vorsicht: Wiedererkennungseffekt!
Info: Anne Tyler, Der leuchtend blaue Faden, Kein & Aber, 446 S., 22,90 Euro
22Mai. 2015