Es war eine machtvolle Demonstration der Ohnmacht: Vor einem Jahr hatte die Hilfsorganisation „Les Enfants des Don Quichotte“ rote Thermozelte an die Obdachlosen von Paris ausgegeben und sie am Canal de St. Martin aufgereiht. Da standen sie dann zu Tausenden wie ein rotes Mahnmal – auch an Nicolas Sarkozy, der vor seiner Wahl vollmundig versprochen hatte, unter seiner Präsidentschaft werde es binnen zwei Jahren keine Obdachlosen mehr in Frankreich geben. Und bei seiner Antrittsrede unterstrich er noch sein Versprechen: „All diejenigen, die das Leben verletzt hat, die das Leben missbraucht hat, sollen wissen, dass sie nicht aufgegeben werden, dass ihnen geholfen wird.“
Die roten Zelte am Canal de St. Martin sind verschwunden, nicht aber die Menschen, die auf den Straßen schlafen. Auch in diesen Tagen, in denen Paris von einer Kältefront heimgesucht wird, rollen sie ihre Schlafsäcke auf Kartons und Zeitungen aus, suchen Unterschlupf unter Brücken. 7000 Obdachlose zählt die Hilfsorganistation SAMU social in Paris und seinen Vororten – und es werden immer mehr. Xavier Emmanuelli, Mitbegründer der "Ärzte ohne Grenzen" und Gründer von SAMU social, ein kleiner Mann mit Knollennase, grauen Haaren und tiefen Stirnfurchen, sieht wachsenden Handlungsbedarf. „Die Obdachlosen werden immer jünger und wir finden auch immer mehr ältere Frauen auf der Straße“, beschreibt er die Situation. Dass ganze Familien ohne festes Dach über dem Kopf sind, dass Kleinkinder kaum etwas zu essen haben und dass junge Mädchen auf der Straße leben, macht ihm schwer zu schaffen.
Es ist diese Situation, die Delphine de Vigan, eine erfolgreiche Pariser Autorin, zu ihrem Buch inspiriert hat. „No & ich“, das am 16. Februar auch auf Deutsch erscheint, schildert die Freundschaft zwischen einer hochbegabten 13-jährigen Schülerin aus gut bürgerlichem Haus mit einer 18-jährigen Obdachlosen. In Frankreich hat das Buch großes Aufsehen erregt und wurde mit dem renommierten Prix des libraires ausgezeichnet. Dass es nun in 20 Sprachen publiziert werden soll, hat Delphine de Vigan total überrascht. „Ich wusste gar nicht, dass das Problem auch in Deutschland und Schweden existiert“, sagt die 42-jährige blond gelockte Mutter von zwei Kindern, die mit ihrem „kleinen Roman“ den Nerv der Zeit traf. „Natürlich reflektiert es unsere Welt und Paris im Besonderen“, versucht sie eine Erklärung. „Wir sind ja alle wie Kinder, wissen nicht, wie mir mit Obdachlosen umgehen sollen, fühlen uns nutz- und hilflos.“
Die 13-jährige Lou wollte das nicht hinnehmen, auf kindlich-naive Art wollte sie die Dinge ändern, indem sie der älteren No anbot, sie mit nach hause zu nehmen. Es ist ein verzweifelter Versuch, Träume wahr werden zu lassen. Dass das alles nicht so einfach ist, wie Kinder sich es sich vorstellen, weiß Xavier Emmanuelli aus langer, bitterer Erfahrung. „Viele wollen sich nicht helfen lassen“, schildert er die Probleme. „Sie schämen sich zu sehr, würden sich am liebsten verkriechen.“ Dass sich No in Delphine de Vigans Buch über die Notunterkünfte beklagt, kann er verstehen. Die Schwierigkeiten lägen aber weniger in den Unterkünften selbst als bei den anderen Obdachlosen: Diebstahl, Dreck, keinerlei private Freiräume. „Die Hölle, das sind die anderen“, zitiert Emmanuelli resigniert den berühmten Satz aus dem Drama „Geschlossene Gesellschaft“ von Jean Paul Sartre. Auch auf der Straße gäbe es keine Freundschaft, im Gegenteil. Hier, wo es ums nackte Überleben geht, sei sich jeder selbst der Nächste.
Umso schlimmer, dass immer mehr Kinder ohne festes Dach über dem Kopf aufwachsen. Auch da versucht eine Hilfsorganisation gegen zu steuern: Parrains par’ mille vermittelt eine Art Patenschaft für vernachlässigte Kinder. Erwachsene können ein Kind für einen Tag im Monat für ein Wochenende zu sich zu nehmen, ihm einen Kino- oder Zoobesuch ermöglichen und ihm vor allem „Zeit, Aufmerksamkeit und Liebe schenken“. Gegründet wurde die Organisation von der französischen Schriftstellerin Catherine Enjolet, die selbst ohne Eltern aufwuchs.
Delphine de Vigan arbeitet inzwischen zwei Tage pro Woche ehrenamtlich für die Organisation. Das kleine Buch hat auch ihr Leben verändert. „Früher habe ich tagsüber gearbeitet und mich um die Familie gekümmert und nachts geschrieben“, erinnert sie sich. „Da hatte ich zu nichts mehr Zeit.“ Nach dem großen Erfolg von „No & ich“ hat sie ihren Job aufgegeben, um sich ganz der Schriftstellerei zu widmen – und sozialen Belangen. Über einen Effekt ihres Buches freut sie sich deshalb ganz besonders: „Ich bin sehr glücklich, wenn Leser mir erzählen, dass sie nach der Lektüre des Buches ihre Meinung über Obdachlosigkeit geändert haben und dass sie sich engagieren wollen.“
Auch Xavier Emmanuelli hofft, dass das Büchlein die Menschen aufrüttelt, dass sie die Obdachlosen mehr als bisher wahrnehmen und sich in Hilfsprojekten engagieren. Derzeit sind es 120 Freiwillige, meist Studenten, die ehrenamtlich für den SAMU social arbeiten und die 650 fest Angestellten unterstützen. 7000 Anrufe gehen Tag für Tag in der Zentrale in Ivry ein. Alle werden registriert und langfristig entstehen so Profile der Hilfsbedürftigen, die eine gezielte Hilfe erleichtern. „Die Leute wissen, dass sie uns vertrauen können“, sagt der alte Mann über die neuen elektronischen Möglichkeiten. „Wir geben keine persönlichen Informationen weiter.“ Nur die nackten Zahlen – und die sind erschreckend genug.
Info: Delphine de Vigan, No & ich, Droemer, 250 S., 16,95 Euro