„Du komm her, mach’ mal“, Anna in weißem Kittel und weißem Häubchen auf dem dunklen Haar drückt dem Gast resolut das scharfe Messer in die Hand, mit dem sie gerade Basilikum zerkleinert hat. Die 55-jährige Apulierin spielt die Hauptrolle im Kochkurs der Masseria Marzalossa, der Touristen auf dem Geschmack der süditalienischen Küche bringen will. Und Anna gibt ihr Bestes, sie knetet den Nudelteig aus Mehl, Wasser und Basilikum so kraftvoll, dass sie kein Fitness-Studio mehr braucht. Dem fertigen Teig rückt sie mit einem Nudelholz zuleibe, das sich auch in einem Film über treulose Ehemänner gut machen würde. Dünn muss er sein, der Teig für die Orecchiette, die traditionellen apulischen Nudeln, die wie Öhrchen aussehen. Anna zeigt, wie man’s macht, stülpt das Teigstückchen über ihren Daumen und formt es zu einem niedlichen Hütchen. Ihr Schüler scheitert schon daran, sein Öhrchen sieht aus als wär’s von Dali.
In Apulien, am Hacken des italienischen Stiefels, da wo die Menschen noch im Mittelalter das Ende der Welt vermuteten, waren Nudeln schon immer wichtiger Bestandteil der Küche, einer Arme-Leute-Küche, wie Anna weiß. Bis weit ins vorige Jahrhundert war die süditalienische Region bitterarm. Weinbau und Fischerei ernährten die Menschen mehr schlecht als recht. Und die rotbraune Erde Apuliens ist Blut getränkt. Die lange Küste hat schon in frühester Zeit die Eroberer in Scharen angelockt. Illyrer und Griechen, Römer und Byzantiner, Normannen und Sarazenen, Staufer und Bourbonen, sie alle hinterließen dem ausgepressten Bauernvolk ein Erbe aus Stein: frühzeitliche Steinzeichnungen, Nekropolen und Amphitheater, Grottenkirchen und byzantinische Kapellen, staufische Kastelle und barocke Paläste.
Einem Mann vor allem, davon sind die Apulier bis heute überzeugt, verdankt die Region die schönsten Kulturdenkmäler, dem Stauferkaiser Friedrich II.(1196 bis 1250). „Puer Apuliae“ nannte der Papst den 18-Jährigen bei der Krönung. Der „Junge aus Apulien“, der später die Welt das Staunen lehrer, machte diesem Namen alle Ehre. Er ließ für sich in der Region „Orte der Erquickung“ errichten und machte Apulien zum Mittelpunkt seiner Herrschaft. Noch heute ist das achteckige Castel del Monte in seiner perfekten Symmetrie Ausdruck des kaiserlichen Machtanspruchs, den der Hohenstaufe auch gegen den Papst behauptete.
Ein anderer, der in Apulien noch heute tief verehrt wird, kam erst nach seinem Tod ins Land: den Schrein mit den Gebeinen von San Nicola, dem heiligen Nikolaus, haben Seeleute 1087 nach Bari gebracht. Für den heiligen Mann aus dem türkischen Myra ließ der Benediktinerabt Elia aus weißem Tuffstein eine wuchtige, romanische Basilika errichten. In hundertjähriger Bauzeit entstand ein Gotteshaus von beeindruckender Formensprache. Das berühmte Löwentor etwa erzählt von den Kreuzzügen ebenso wie vom Alltag der Bauern – ein Bilderbuch in Stein gehauen. Die Wunder, die der Heilige seit seiner Ankunft in Bari bewirkte, sind auf der reich verzierten Decke aus dem 16. Jahrhundert zu sehen. Das „Manna von San Nicola“ eine bräunliche Flüssigkeit, die angeblich von den Gebeinen des Heiligen ausgeschwitzt wird, gilt bis heute als Wundermittel. Vor allem die Russen verehren den wohltätigen Bischof. In der Krypta mit der byzantinischen Ikonostase geben sich russische Pilgergruppen die Klinke in die Hand. Auch Präsident Putin war schon da.
Draußen in den engen Gassen rund um die Basilika flattert Wäsche im Wind, Fischer verkaufen frische Muscheln vom Wagen, Gemüsehändler haben ihre saftigen Köstlichkeiten im Freien aufgetürmt, zahnlose Alte sitzen schwatzend in der Sonne, ein paar Jungs spielen Fußball. Der weltbekannte Architekt Renzo Piano hat der Stadt und ihrem Verein ein Stadion errichtet, das einer Muschel oder einem Ufo ähnelt – das Stadion San Nicola, eine Kathedrale des Sports.
Rot blüht der Klatschmohn im Schatten der alten Olivenbäume, sonnengelb der wilde Salbei in der Macchia neben der Uferstraße, unter der das Meer türkis schimmert als wär’s ein Stück Karibik. Nur die seltsamen Rundbauten mit den spitzen Dächern wollen so gar nicht zu diesem Bild passen; eher schon ins Auenland der Hobbits, jener kleinwüchsigen Wesen aus dem „Herrn der Ringe“. Alberobello ist die Hauptstadt der Trulli, Weltkulturerbe und Touristenhochburg. Alle wollen die archaischen Bauten mit den schiefergrauen Zipfelmützen sehen. Ganz ohne Mörtel hatten die Menschen schon in grauer Vorzeit die Steine in Rundbauform aufeinander geschichtet, so genial, dass Trulli sogar Erdbeben überstehen können. „Diese Gegend hätte einem Volk von Riesen Angst gemacht“, schrieb der Dichter Tommaso Fiore Ende des 19. Jahrhunderts in seinem Roman „Das Volk der Ameisen“ über die Bewohner des Valle d’Itria. Nur Ameisen seien dazu fähig gewesen, diese Erde zu bebauen. Sie klaubten die Steine von den Feldern und nutzten sie einfach als Baumaterial für ihre Behausungen. Heute gibt es Trulli mit und ohne Komfort, Trulli als Ferienwohnungen, als Werkstätten, als Läden, Miniaturtrullis als Springbrunnen und in Schneekugeln. Und an der Via Monte San Michele drängen sich die Souvenirläden wie überall auf der Welt, wo Touristenbusse ihre Fahrgäste entlassen. Tag für Tag steuern etwa 50 Busse Alberobello an.
Dabei gibt es auch in anderen Städten viel zu sehen: Die barocken Fassaden von Martina Franca, der Stadt der freien Bürger, und den Palazzo Ducale, in dessen Innenhof alljährlich ein Festival klassischer Musik stattfindet, das seinesgleichen sucht. Das römische Amphitheater und die üppigen Kirchen von Lecce. Die Kathedrale von Otranto, wo die Gebeine von 800 einst von Türken niedergemetzelten Bürgern einen makabren Altarschmuck bilden und die Besucher aus einem der größten Fußbodenmosaiken der Welt viel über Alltag und Glaubenswelt des Mittelalters erfahren können. Die imposante Festung von Gallipoli und die vielen Zunftkirchen auf den Festungsmauern.
Doch Apulien muss man auch schmecken, meint Anna. „Ich fertig, ihr essen!“ Das muss sie nicht zwei Mal sagen. Hier kommt der Appetit vom Zugucken. Zu den Orechiette, von denen manche ein kleines bisschen an die Trulli erinnern, hat Anna ganz nebenbei einen Sugo aus Auberginen, Oliven und Tomaten geschmort. Zum Wein gibt’s eine Gemüsefocaccia mit Paprika, Zucchini, Tomaten, eingelegten Artischocken und Kapern. Und das Lamm in Weißwein mit Rosmarin köchelt schon auf dem Ofen…