Alexandria – Hauptstadt der Erinnerung

Was hätten sie wohl gesagt, wenn sie heute nach Alexandria kämen: Darley, Justine, Balthazar, Melissa, Clea und die anderen? Lawrence Durrells grandioses Sittengemälde „Das Alexandria-Quartett“ macht eine Epoche lebendig, in der die Stadt an der ägyptischen Mittelmeerküste noch Schmelztiegel der Nationen war, in der Europäer, Juden und Ägypter friedlich miteinander lebten, ehe der Zweite Weltkrieg diesem kosmopolitischen Dasein den Boden entzog und die Stadt Alexanders des Großen zu einem Provinznest degradierte.
Und trotzdem weckt der Name Alexandria alte Sehnsüchte, Träume von der leidenschaftlichen Liebe zwischen Cleopatra und Marc Anton, Erinnerungen an längst vergangene Zeiten.
„Die Hauptstadt der Erinnerung“ nannte Darley im Durrells Roman Alexandria. Tatsächlich lebt die Stadt heute vor allem von der Erinnerung an ihre lange Geschichte und an glanzvollere Zeiten, als die stuckverzierten Prachtbauten rund um die Corniche noch ein freundliches Gesicht zur Schau trugen, als in Cafes wie dem Trianon Künstler und Intellektuelle diskutierten. Eine Spurensuche.

Ankunft
Ich lese: „Trotz der Jahreszeit strahlte die Seeseite der Stadt in fröhlichem Licht – die langen, abfallenden Linien der Grande Corniche wandten sich einem niedrigen Horizont zu; tausend erleuchtete Glasscheiben hinter denen, kostbaren tropischen Fischen gleich die Einheimischen des europäischen Viertels an glänzenden Tischen saßen…“    
 Wir fahren am Abend nach einer langen Reise von Kairo über den großen Salzsee, den Mareotis nach Alexandria hinein. „Mein Gott, ist das schrecklich“, stöhnt eine Mitreisende beim Anblick der grauen Betonklötze, die aus den toten Augen der Fenster auf das Meer glotzen. Der Verkehr rauscht vierspurig auf der 18 Kilometer langen Corniche und gönnt sich nicht mal nachts eine Pause. Und dann erhebt sich mit funkelnden Lichtern der Komplex der Grand Plaza San Stefano mit dem Four Seasons Hotel im Zentrum wie ein weißer Koloss aus dem Einheitsgrau. Ein Stück modernes Alexandria entsteht hier, wenn es nach dem Bauherrn Hesham Talaat Mostafa geht, einem ägyptischen Immobilien-Tycoon, der ein bisschen aussieht wie der gereifte Nessim, Justines Mann, mit den dunklen Augen, dem mandelfarbenen Teint und den graumelierten Haaren. Der Visionär hat das Hotel an traditionsreicher Stelle erbauen lassen, da, wo einst das San Stefano Hotel stand, das der Schriftsteller E.M. Forster als „eines der ältesten und gastfreundlichsten Häuser Ägyptens“ gepriesen hatte. Jetzt soll das Four Seasons Alexandria at San Stefano mit seinen luxuriösen Suiten wieder zum Aushängeschild eines modernen Ägypten werden. „Die Stadt braucht ein Hotel wie dieses“, ist Verkaufsdirektor Ashraf El Manawaty, überzeugt. Über der vierspurigen Straße am Strand türmt sich eine Baustelle auf. Hier soll die neue Marina dem Meer abgetrotzt werden, eine Reihe von Privatvillen und ein Privatstrand für die Hotelgäste. „Wir bauen nicht nur ein Hotel, sondern ein Reiseziel“, sagt Manawaty und hofft, dass das Beispiel in Alexandria Schule macht.
Dann könnte sich womöglich bald wieder eine internationale Gemeinde in der Acht-Millionen-Stadt am Mittelmeer einfinden wie sie Durrell beschrieb. 

Erster Eindruck 
Ich lese: „Alexandria – Prinzessin und Hure, Königliche Stadt und anus mundi. Nie würde sie sich wandeln, solange die Rassen hier weiter in Gärung waren wie die Hefe im Faß… Hohe Palmen und Minarette vermählten sich im Himmel wie Bienenstöcke flankierten die weißen Etagenbauten die engen verwahrlosten Schmutzstraßen.“
Unsere Stadtführerin Alexa ist so alt, dass sie noch im kosmopolitischen Alexandria aufwuchs. Die kleine Dame mit dem kastanienbraun gefärbten Haar, das auf ihrem runden, faltigen Gesicht liegt wie ein Perücke, denkt mit Nostalgie zurück an die Zeit, als in Alexandria noch königlicher Prunk herrschte und in den Salons französisch gesprochen wurde. Sie führt uns  durch den Wind zerzausten Montaza-Park (Ausflugsziel von Darley und Melissa)  zum Gästehaus des Königs. Im heutigen Palace Hotel Salamlek sind royale Zeiten konserviert. Auf Bildern und Gemälden blickt die königlichen Familie von Englands Gnaden, das alte Telefon mit dem Entenhals steht noch auf dem Tresen in der Bar, ganz so, als würde es gleich klingeln, ein Diener würde abheben und König Faruk in seiner Sommerresidenz anrufen. Wie eine Mischung aus Moschee, Schloss Neuschwanstein und Trutzburg, ragt die Residenz neben dem 70er-Jahre-Bau des Hotels Palestine auf. In einer Laube turtelt ein Liebespärchen, ein bunter Vogel schwingt sich ins Geäst, ein Sonnenstrahl befingert den Minarett artigen Turm. Im smaragdenen Meer peitscht der Wind die Wellen ans Land. 
Dann die Corniche. Gesäumt von schnell hochgezogenen, billigen Wohnblöcken, von denen der Verputz blättert. Alexa verzieht ob dieser Hässlichkeit verächtlich den rot geschminkten Mund. Sie erinnert sich an den hölzernen Pavillon, das Badehaus ihrer Eltern, inmitten der anderen Chalets. An die Kinder, die jauchzend in den schaumgekrönten Wellen badeten.  „Wissen Sie“, sagt sie in ihrem etwas gestelzten Deutsch, „zu dieser Epoche war es nicht nur Geld oder Eleganz – es war Kultur.“
Kultur war das Lebenselixier der Alexandriner von Anfang an. Fast so legendär wie der Leuchtturm, der Pharos, eines der sieben Weltwunder der Antike, war die Biblioteca Alexandrina, deren Untergang im kollektiven Gedächtnis der Menschheit noch heute als Verlust empfunden wird. Die neue Bibliothek am Hafen der Ptolemäer, 2002 eröffnet, wirkt wie die Rampe eines Raumschiffes und soll das Wissen der Menschheit in die Zukunft tragen. Drinnen in den weitläufigen, lichtdurchfluteten Räumen beugen sich drei junge Mädchen im Kopftuch über ein Buch, ein paar Männer suchen in den Regalen nach Lektüre. Acht Millionen Bücher sollen einmal hier aufgereiht sein, zurzeit sind es gerade mal 200 000 und viele bekannte Werke der Weltliteratur fehlen, weil sie der ägyptischen Zensur unterliegen.
Um das ultramoderne Gebäude herum sind noch Reste alter Pracht aus der Belle Epoque erhalten und Alexa erzählt, wie elegant alles einmal war, die Kaffeehäuser, das Opernhaus, die Konsulate, ja sogar die Kinos. Beim französischen Konsulat stehen noch ein paar klassizistische Häuser mit bröckelnder Art-Deco-Herrlichkeit. 

Die alte Stadt
Ich lese: „In den Straßen, die zu den Docks führen, drängen sich die verkommenden, zerfallenen Häuser dicht aneinander. Sie hängen vornüber, ihr fauler Atem fließt ineinander. Mit Läden verschlossene Balkone, Rattengewimmel, alte Frauen, deren Haar verklebt ist vom Blut der Zecken. Bröckelnde Mauern, ohne Halt, schwanken trunken nach Ost und West um ihren Schwerpunkt.
Auf den maroden Straßenbahnschienen schwankt ein Eselskarren, Horden von gelben Taxis versperren die Fahrbahn. Hausruinen wie verfaulte Zähne, Katzen auf verrotteten Dächern, am Straßenrand Händler mit Karren voller Bananen und Mandarinen, andere mit Oberhemden, Jacken, Schuhen, Bauchtanz-Fummel. Schwarz verhüllte Frauen mit großen Einkaufstaschen vor buntem Plastikgeschirr und grellfarbiger  Bettwäsche. Büstenhalter baumeln im Wind und Unterhosen. Alte Männer vor kleinen Kaffeehäusern, schwatzend, Wasserpfeife rauchend. Kindergeschrei und die Rufe des Muezzins.
Ich lese: „Die Stadt streckt sich wie eine alte Schildkröte und äugt umher.“
Ja, Alexandria ist eine alte Stadt, in der die Geschichte nachklingt wie die einstige Schönheit in einer alten Frau. Nur Reste einstiger Pracht sind noch erhalten, die Pompejussäule, das Theater aus der Römerzeit, die altägyptischen Reliefs bei den Katakomben, der Palast Ras al Tin, die Mamelucken-Festung Qaitbay, auf den Trümmern des Leuchtturms errichtet…
Bald schon sollen Funde des antiken Alexandria in einem außergewöhnlichen Museum zu sehen sein. Gaballa Ali Gaballa von der ägyptischen Altertümerverwaltung will die Besucher unter Wasser schicken, damit sie dort die Ruine des Königsviertels bewundern, in dem Cleopatra den römischen Kaiser Marc Anton geliebt hat. Womöglich werden sie auch Teile des 120 Meter hohen Leuchtturms zu Gesicht bekommen. Doch bevor die Besucher in Glasröhren durch die versunkene Welt wandeln oder in Glasbodenbooten durch die Meereswogen hinunter schauen auf 2000 Jahre Geschichte, müssen die Funde katalogisiert werden, muss eine Unterwasserkarte erstellt werden. 

Die Straßenbahn
Ich lese: "Die kleine blecherne Straßenbahn fuhr uns mit klappernden Rädern an den Sandstrand von Sidi Bishr, oder wir verbrachen Shem El Nessim in den Gärten von Nouzhu… Sogar in den Namen der traßenbahnhaltestellen klingt die Poesie dieser Ausflüge auf: Chatby, Camp de Cesar, Laurens, Mazarita, Glymenopoulos.“
Es könnte noch dieselbe Straßenbahn sein, mit der Darley und Melissa unterwegs waren. Blechern genug ist sie und altersschwach. Beim Anfahren ächzt sie asthmatisch wie eine alte Schiffsschraube. Dann rumpelt sie über die rostigen Schienen, „langsam wie ein Kamel“, so Achmed, mein Begleiter. Die Alexandriner springen während der Fahrt auf und ab: junge Typen mit Computertaschen, alte Männer in der traditionellen Galabija, Frauen mit Kopftüchern und andere tief verschleiert, Mädchen in grellbunten Kleidern und dazwischen ich, neugierig beäugt von den anderen Insassen der Straßenbahn. Grade mal 25 Piaster kostet die Fahrt durch „Alexanders abgenutzte Hauptstadt“ (Durrell). Dafür muss man in Kauf nehmen, dass die Bahn mitten in der Fahrt anhält, weil der Fahrer zum Gebet entschwindet, sich einfügt in die Reihen gebückter Rücken am Straßenrand. Die Männer haben ihre Teppiche auch vor dem McDonald ausgerollt und lauschen andächtig den mahnenden Worten des Mullahs. Wie eine Stimme aus dem Off ist er im ganzen Viertel zu hören. Alexandria ist fromm geworden, seit die Europäer der Stadt den Rücken gekehrt haben. Die 18 Prozent Kopten unter der Bevölkerung fallen nicht auf. Sie haben sich der muslimischen Mehrheit angepasst. „Alexandria ist eine kleine Stadt“, sagt Achmed. „Da achtet jeder darauf, was der andere tut.“  Klein – bei acht Millionen Einwohnern? Achmed lächelt. „In Kairo leben 23 Millionen. Das ist eine wirklich große Stadt. Alexandria ist wie ein großes Dorf.“ Ein Dorf voll schillernder Geheimnisse, die unter der schmutzig-grauen Oberfläche lauern und auf Entdeckung warten wie der im Meer versunkene Palast der Kleopatra.

Abschied
Ich lese: „Es war wieder die alte Stadt; er empfand ihre ansteckende Schwermut unter dem Regen, als er sie auf seinem Weg zur Sommerresidenz durchquerte. Das gleißende, ungewohnte Licht des Unwetters ließ sie wieder erstehen, gab ich einen gespenstischen, märchenhaften Anstrich…   die Liebenden, die über den Mohammed Ali Platz schlenderten, waren verwirt von dem ungewohnten Regen, trostlos wie verstimmte Instrumente; das Rasseln violetter Straßenbahnen am Meer entlang, unter klatschenden Palmwedeln. Das Verrinnen einer alten Stadt, deren Straßen mit dem nassen, verwehten Staub der Wüste ringsum gedeckt waren.
Nach dem Regen wirkt die Stadt als habe sie sich für den Abschied frisch gemacht. Das Meer schimmert im frühen Abendlicht wie ein Opal und selbst die grauen Wohnklötze haben etwas Rouge abbekommen.  Vielleicht ist es dieses unwirkliche Licht, das die Stadt aussehen lässt wie eine Traumkulisse. Vielleicht ist es aber auch Lawrence Durrel, der Alexandria für mich verzaubert hat und mir den Abschied schwer macht.                     

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